Eine verlorene Ewigkeit

Seit 15 Jahren suchen Mandys Eltern nach ihrer verschwundenen Tochter. Doch als sie der Wahrheit endlich näherkommen, fallen Schüsse vor ihrer Haustür. Der Kampf um Gewissheit eskaliert Erschienen in ZEIT Verbrechen, Juli 2024 / Fotos: Mario Wezel Sie hat die Satinvorhänge vor die Fenster gezogen. Die Außenwelt soll ihr fernbleiben, sie ist ihr längst zur Bedrohung geworden. Sabine sitzt am Esstisch, hat die vom Rheuma schmerzende Hand in den Schoß gelegt. Die andere führt die Zigarette an ihre Lippen für den nächsten gedankenlosen Zug. Von Dutzenden Fotos an den Wänden blicken die Vorfahren auf sie herab. Einst war Sabine eine stolze Sinteza, zog mit ihren Eltern im Wohnwagen von Ort zu Ort. Schriller Jahrmarkttrubel und die klebrigen Massen der Menschen. Doch seit 15 Jahren ist sie nur mehr die Mutter eines abhandengekommenen Kindes. Nichts zermartert einen so sehr wie die Ungewissheit. Es war das Jahr 1988, Sabine 23 Jahre alt, als sie den zwei Jahre jüngeren Richard heiratete. Ein stiller, freundlicher Mann, der beim Sprechen manchmal verlegen lächelt. Im Jahr darauf, am ersten Weihnachtstag, brachte sie ihre Tochter Mandy zur Welt. Sechs Jahre später ihren Sohn. Sabine und Richard wurden sesshaft, zogen aus dem Wohnwagen schließlich in ein Haus in Niedersachsen. Mandy trat in der Mini Playback Show auf. Sie sang Destiny von Jennifer Rush; sie hatte Sommersprossen im Gesicht und trug lange, lockige schwarze Haare. Im Fernsehstudio sagte ein kleiner Elvis Presley zu ihr, sie sei die schönste Frau der Welt. Als Mandy älter wurde, bemerkte sie, dass sie bei den Jungs gut ankam. Sie schrieb mit manchen von ihnen E-Mails, sinti- prinzessin@hotmail.com, traf sie heimlich. Nachdem Mandy ihren Realschulabschluss bestanden hatte, begann sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau im Mercedes- Autohaus. Dann lernte sie diesen Jungen kennen. Sein Name kommt Sabine heute nicht mehr über die Lippen. […] Der ganze Text in ZEIT Verbrechen, Ausgabe 27

Was aus ihrem Hass wurde

Erschienen im ZEIT Dossier, 12.10.2023/ Foto: Dietmar Gust Deutschland, Anfang der Neunziger: Neonazis gehören vielerorts zum Straßenbild. Sie jagen Migranten, zünden Flüchtlingsheime an, verprügeln linke Jugendliche. Ein Prozess in Koblenz führt zu den Skins von damals – und zu der Frage: Haben sie sich gewandelt? Sie begegnete ihm im Sommer 2007, auf einem Grillfest bei jemandem, mit dem sich ihr damaliger Freund herumtrieb. Sie saß auf einer Bierbank, als der schlanke Mann mit Kappe und Hornbrille neben ihr Platz nahm. Zunächst hätten sie kein Wort miteinander gesprochen, sagt sie heute. Doch dann habe er diesen Satz fallen gelassen: “Erinnerst du dich an den Brandanschlag in Saarlouis-Fraulautern? Das war ich, und sie haben mich nie erwischt.” Der Mann habe gelächelt. Sie habe danach nicht groß darüber nachgedacht. Bis zum November 2019. Da habe sie sich plötzlich wieder an die Begegnung erinnert. Auf Facebook sei sie zufällig auf einen Medienbericht gestoßen, in dem es um einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim im Stadtteil Fraulautern ging. So habe sie erfahren, dass dabei im September 1991 ein Mensch getötet worden war, der Ghanaer Samuel Kofi Yeboah. Ihr sei klar gewesen: Ich muss zur Polizei.  Während die Zeugin all das vor dem Oberlandesgericht Koblenz erzählt, verzieht der Mann auf der Anklagebank keine Miene. Seine Haare sind ergraut, er trägt schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Lackschuhe, wie an den meisten anderen Prozesstagen auch. Peter Werner S. ist heute 52 Jahre alt. Früher war er ein Skinhead. Mittlerweile, beteuert er, führe er ein bürgerliches Leben, mit Frau, Tochter, einem Job als stellvertretender Teamleiter in einer Autowaschstraße und, wie er sagt, “vielen ausländischen Freunden”. Dieser Mann ist angeklagt wegen Mordes. Aufgrund der Erinnerung der Frau, die er vor eineinhalb Jahrzehnten auf einem Grillfest kennenlernte; für eine Tat, die drei Jahrzehnte zurückliegt. Im Prozess gegen Peter Werner S. ist sie wieder da: die Zeit nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung, in der kahl rasierte, mit Baseballschlägern bewaffnete junge Männer vielerorts die Straßen beherrschten. Eine Zeit, in der es wie niemals zuvor und niemals danach in der Bundesrepublik zu Gewalt gegen Asylbewerber, Deutsche ausländischer Herkunft, Obdachlose und linke Jugendliche kam. Die meisten Menschen dürften dazu Bilder aus Ostdeutschland vor Augen haben. Der rechtsradikale Mob vor Plattenbauten im sächsischen Hoyerswerda, in denen Flüchtlinge und Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam untergebracht sind. Das brennende Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen, die darin eingeschlossenen Vietnamesen in Todesangst. Skins und Hooligans, die mitten am Tag Afrikaner durch Magdeburg jagen. Diese Szenen haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt. Was weniger bekannt ist: Auch in beschaulichen westdeutschen Orten wie dem saarländischen Saarlouis mit seinen 38.000 Einwohnern trieben sich damals junge Menschen in ihrem rechtsextremen Hass gegenseitig zu brutaler Gewalt an. Heute sind die Skins aus den allermeisten Städten verschwunden. Die sogenannten Baseballschläger-Jahre scheinen längst vergangen zu sein, wie eine versunkene Epoche. Aber sind sie das wirklich?  28. November 2022, der zweite Prozesstag: Peter Werner S. liest einen Text vor, in dem es um sein Leben geht. Zu seinem Vater habe er keinen Kontakt gehabt, sein Stiefvater habe ihn verprügelt. 1988, mit 17, habe er eine Bäckerlehre begonnen. Mit dem Gesellen habe er den Transporter der Bäckerei gestohlen, sie seien durch Europa getourt. Danach Mietbetrügereien in Frankfurt und München. Festnahme in einem Hotel in Saarlouis.  In der Jugendstrafanstalt lernte Peter Werner S. einen anderen jungen Mann kennen, klein und schmächtig, mit dem er sich den ersten Vornamen teilt: Peter St. wird von Zeugen als charismatisch beschrieben, ein guter Redner.  Im Frühjahr 1991 war Peter Werner S. wieder frei. Vor Gericht trägt er vor, er habe Peter St. zufällig auf der Brücke über die Saar wiedergetroffen. “Komm doch mit, lass uns noch was trinken gehen”, habe Peter St. zu ihm gesagt. So geriet Peter Werner S. in die Skinhead-Szene von Saarlouis. Peter St. war ihr Anführer. […] Gesamter Text bei ZEIT Online

Gift & Gegengift

In Kenya werden jedes Jahr Tausende Menschen von Schlangen gebissen. Kamele sollen sie retten. Erschienen in REPORTAGEN, September 2023 Zwischen gleissendem Sonnenlicht und Finsternis liegen im kenyanischen Rift Valley nur Augenblicke. Die Konturen ihrer Hütte verschwammen schon, als Cheploke Ripokamar hinausging, um ihre Ziegen zu melken. Dass sich im Gehege ein weiteres Tier befand, eingerollt auf der sandigen Erde, bemerkte sie erst, als ihr nackter Fuss auf den Körper der Puffotter trat. Die Schlange riss ihren Kiefer auf und rammte die Fangzähne tief in Cheplokes Fuss. Die junge Frau schrie, versuchte, den Kopf der Schlange abzuschütteln. Die Kette aus weissen Holzperlen um ihren Hals klackert, wenn sie heute, neun Monate später, ihre Bewegungen von damals wiederholt. Ezra Ewoi hatte sich eine Pause verdient. Seit Stunden hob er auf einer Baustelle ein Wasserloch aus. Der junge Mann setzte sich auf einen Stein. Hitze schoss ihm in den Kopf, und als er nach hinten kippte, streckte er reflexhaft seine Hand aus, um sich aufzufangen. Er fühlt noch immer die feste, trockene Haut der Schlange am Handballen, verzieht das Gesicht, wenn er sich an das scharfe Stechen beim Biss erinnert. Seine dunkel untermalten Augen zeugen vom nur knapp gewonnenen Überlebenskampf. Lange vor den beiden hatte es Chepositem Pkopus’ Baby ge­troffen. Es schrie, liess sich einfach nicht beruhigen. Chepositem, damals noch ein Teenager, machte das Keuchen des Kindes Angst. Sie weckte die ältere Ehefrau ihres Mannes, und die beiden entschieden, ­mitten in der Nacht zum nächsten Krankenhaus aufzubrechen. Als sie an der Hauptstrasse ankamen, die zum Krankenhaus führt, war das Baby tot. Zurück in der Hütte, sank sie zu Boden. Da sah sie die aufgestellte Speikobra, die Bänder längs ihres Nackens ausgefahren. Die Giftschlange schnellte vor und biss Chepositem in die Schulter. […] Der ganze Text hier oder in REPORTAGEN #72

Das Blut an den Bronzen von Benin

Erschienen in Das Magazin, 18.08.2023/ Foto: Manny Jefferson Europäische Museen haben mit der Rückgabe von Kunstwerken begonnen, die zur Kolonialzeit aus dem heutigen Nigeria geraubt wurden. Doch nun behauptet ein Lokalfürst, die kostbaren Objekte seien sein Privateigentum. Eine Recherche von Zürich bis Lagos Der Prinz von Benin war geladen, um Raubkunst zu identifizieren, und so reiste er diesen Januar mit Bus und Bahn durch die Schweiz, nach Basel, Zürich und St.Gallen. Nie zuvor hatte der Kunsthistoriker das Land besucht, ein Visum ist unter normalen Umständen fast unerreichbar. Die Schweiz machte Eindruck auf den Prinzen: Es gefiel ihm, durch den Schnee zu stap- fen, vom Zugfenster aus die Berge zu sehen und dass es zu jeder Mahlzeit einen Korb mit Brot gab. In Zürich in der Badenerstrasse entdeckte er ein Restaurant, benannt nach seiner Urahnin, Königsmutter Idia, westafrikanische Küche. Er ass Erdnusssuppe mit Fisch, und nachdem er die Inhaber darüber aufgeklärt hatte, dass er ein Prinz von Benin ist, ein Nachfahre der Idia also, da erzählte er bei nigerianischem Bier bis spätnachts aus seinem Leben. Der Höhepunkt für den Prinzen aber war der Besuch im Zürcher Museum Rietberg. Als er erstmals die Kunst seiner Vorfahren in den Händen hielt. Es war jene Kunst, welche die Kolonialisten vor 126 Jahren aus dem Palast seines Urgrossvaters geraubt hatten, dem Oba Ovonramwen, König von Benin: aus Messing gegossene Köpfe seiner Ahnen, Skulpturen wilder Tiere oder Relieftafeln, auf denen historische Ereignisse abgebildet sind. In diesem Moment, sagt der Prinz, habe er sich alt gefühlt. Sehr alt. Dann schweigt er. Der Prinz heisst Patrick Oronsaye, er ist Mitte sechzig und sitzt mir gegenüber am Rande von Benin City, Nigeria, im Büro des Waisenhauses, das seine Mutter einst gegründet hat. Auf dem Laptop klickt er durch die Fotos seiner Schweizreise, Betriebssystem Windows 7. Den wackligen Schreibtisch hat Western Union gespendet, am Fensterrahmen blättert der Putz, aus dem Innenhof dringt Kinderlärm. Der Prinz erzählt, einer seiner Jungs aus dem Waisenhaus habe ein- mal gesagt, mit den Benin-Bronzen, die Deutschland und womöglich auch die Schweiz nun zurückgeben werden, kehre die Geschichte zurück. Das stimme. Es sei, als wären es seine Vorfahren selbst, die nach Hause kommen. Nach Hause – für den Prinzen heisst das: in die Hände seines Neffen, des Oba Ewuare II. Der aus seiner Sicht einzig rechtmässige Besitzer. […] Gesamter Text

Hoffnung in Berlin

Christian möchte einfach nur der Armut entkommen. Chronik eines Lebens zwischen Missbrauch, Drogen, illegalen Kryptomillionen – und dem Kampf um den eigenen Sohn Erschienen in ZEIT Verbrechen, Oktober 2023 / Fotos: Nikita Teryoshin Christians Problem, immer schon: Er ist auf der Suche und weiß nicht, wonach.  Der 27. November 2003 – morgen wird Christian 14.  Er sitzt im silbernen Renault Twingo vom schwulen Hans. Das perverse Schwein wollte ihn nach Hause fahren, dabei liegt das Café Chaplin, das ihm gehört, nur ein paar Straßen entfernt, schräg gegenüber der Feuerwehr. Vorbei an der Polizei. Vorbei am Friedhof, links vorbei an den vielen kleinen Spitzgiebelhäuschen, bis dann, ziemlich unvermittelt, drei wuchtige Wohnblocks auftauchen. Ganz gierige Glupschaugen hat der schwule Hans. Sie könnten ihm aus den Höhlen flutschen, wenn er sich nur vorbeugt. Christian und die anderen Jungs sitzen oft im Café Chaplin, immer in derselben Nische, abseits der übrigen Gäste. Der schwule Hans, so nennen ihn alle hier, spendiert ihnen dann Pizza und Fanta. Ständig läuft Heal the Worldvon Michael Jackson. Er wohnt in einer Kellerwohnung unterm Café, zusammen mit Mausi, der Katze, und einer stadtbekannten Playboy-Sammlung. Originale aus Amerika.  Zur Feier von Christians großem Tag morgen hatte der schwule Hans gefragt, welchen Cocktail er trinken wolle. Der süß-cremige Geschmack der Piña Colada überraschte Christian, als käme das Glas in seiner Hand geradewegs von einer entlegenen Tropeninsel. Ein paar Schlucke später spürte er eine wohlige Wärme. […] Der ganze Text hier oder in ZEIT Verbrechen, Ausgabe 22

Vier Jahrzehnte an der Nadel

Mit etwa 40 Jahren sterben Opiatsüchtige in der Regel. Viola Blecher ist 73 Jahre alt – und seit mehr als 40 Jahren heroinabhängig. Wie hat sie es geschafft zu überleben? Erschienen auf ZEIT Online, Mai 2023 / Fotos: Maria Sturm Viola Blecher muss suchen, bis sie eine geeignete Vene für die Nadel findet. Wenn sie sich die aufgezogene Spritze am Vergabefenster abgeholt, ihren Jutebeutel neben einen der Glastische hat fallen lassen, die Haut desinfiziert und Stauschlauch am Arm angelegt hat, fährt sie sich über die faltige Haut. Sie hat zwar jahrzehntelange Übung darin, doch ihre Venen sind inzwischen vernarbt. Wenn sie schließlich eine getroffen hat, ein wenig Blut in die Spritze gezogen und den Schuss gesetzt hat, erschlafft ihr Körper für einen Moment, ihr Kopf kippt ein Stück Richtung Brust. Dann ist sie wieder da, ein wenig fröhlicher als zuvor. Sie nimmt den Stauschlauch ab, zieht die Nadel aus der Haut, schmeißt sie in einen gelben Abwurfbecher. Mit Tuch und Putzmittel desinfiziert sie ausführlich den Glastisch vor sich. „Mein Körper fühlt sich gut an. Immer noch krumm und schief, aber erträglich“, sagt sie lächelnd.  Mit 16 Jahren hat Blecher das erste Mal Heroin gespritzt, heute ist sie 73. Sie läuft gebückt, hat die weißen Haare stets ordentlich zurückgekämmt. Die von Jahren auf der Straße zerstörten Füße stecken in schwarzen Crocs. Blecher nennt ihr Gegenüber „Schatz“, verschenkt gerne vierblättrige Kleeblätter und Blümchen vom Straßenrand und hat immer eine Biografie von Robert Musil oder Stefan Zweig im Jutebeutel.  Seit der Eröffnung des Praxiskombinats in Berlin-Lichtenberg vor drei Jahren kommt sie jeden Vormittag für ihre erste Spritze. Die Mittagspause verbringt sie oft mit Einkäufen oder trinkt mit anderen Patienten Kaffee, dann holt sie sich eine zweite Dosis. Und manchmal kommt sie am frühen Abend noch mal. In dem vierstöckigen Gebäude, versteckt zwischen den Wohnhäusern im sozialistischen Stil der Frankfurter Allee, können sich suchtkranke Menschen Diamorphin spritzen. Die klare Flüssigkeit unterscheidet sich vom Straßenheroin nur in seiner Herstellung durch Pharmafirmen und seiner Reinheit. Anders als auf der Straße enthält es kein Mehl, Gips, Koffein, Paracetamol oder ASS. […] Der ganze Text hier auf ZEIT Online

Wie das Kondom für die Frau scheiterte – und wiederkehren könnte 

Das Femidom sollte Teenagerinnen vor HIV schützen – und, wie die Pille, die sexuelle Selbstbestimmung der Frau vorantreiben. Warum hat es sich nie durchgesetzt? Erschienen in ZEIT am Wochenende, März 2023 Die Frau, die sich mit der Geschichte des Femidoms vielleicht am besten auskennt, ist inzwischen Rentnerin. Anny Peters, die hellblonden Haare von grauen Strähnen durchzogen, runzelt immer wieder die Stirn, wenn sie in ihrem weichen, niederländisch gefärbten Englisch über das Verhütungsmittel spricht, für das sie ihr halbes Berufsleben gekämpft hat. Noch immer kann sie dann laut und energisch werden.  In den Neunzigerjahren war Anny Peters eine der feministischen Entwicklungshelferinnen, die sich mit Ärztinnen, HIV-positiven Frauen und Angehörigen einmal im Monat in Simbabwes Hauptstadt Harare trafen. Indische, US-amerikanische, simbabwische Akzente flogen durcheinander, wenn sie darüber sprachen, dass immer mehr Frauen, besonders junge, sich mit HIV infizierten – und nach Auswegen suchten.  Einer davon: „Ein eigenes Kondom für Frauen, das ihnen ermöglicht, sich selbst zu schützen, nicht nur vor Schwangerschaften, sondern auch vor sexuell übertragbaren Krankheiten“, sagt Anny Peters. Das Femidom ist eine 17 bis 18 Zentimeter lange Plastikhülle mit zwei Ringen. Der eine sorgt dafür, dass der Schlauch in der Vagina hält, der andere sorgt für Halt in der Vulva.  […] Der ganze Text hier oder in ZEIT am Wochenende

Und wenn ich einfach wach bleibe?

Benedikt Herber hat Schlafprobleme und beschließt: Er steht auf und nutzt die Zeit mitten in der Nacht für sich. Ein Selbstversuch Erschienen in die ZEIT, 24. November 2022 / Illustration: Martin Nicolausson Gnadenlos hämmert der Husten meiner Freundin auf mein Trommelfell. Wie lange geht das schon so? 15 Minuten, zwei Stunden? Ich weiß es nicht, weiß nur, dass ich nicht mehr einschlafen werde. Ich steige aus dem Bett und tappe barfuß in Richtung Küche, reiße das Fenster auf, ziehe mein Schlafshirt über den Kopf, und als die kalte, frische, feuchte Luft hereintritt, meine Haut sich strafft und die Haare sich aufrichten, denke ich: Benjamin Franklin, Miterfinder der amerikanischen Demokratie und des Blitzableiters – sein Genie muss etwas mit diesem Gefühl zu tun haben. Seit ich denken kann, habe ich Schlafprobleme. Das Einschlafen fällt mir nie schwer, aber von etwa vier Uhr morgens an liege ich hellwach im Bett. In einem Netz von Gedanken hetze ich umher, verheddere mich, stolpere. Wieder und wieder versuche ich, mich daraus zu lösen, aber es gelingt mir nicht. Stunden vergehen, bis ich erschöpft in den Schlaf falle oder der Wecker klingelt. Es war mir immer klar, dass Millionen andere das gleiche Problem haben, kein Grund, eine große Sache daraus zu machen. Bis mir ein Roman die Augen öffnete. Das Buch heißt Harlem Shuffle, geschrieben vom Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead. Im Harlem der Sechzigerjahre, einer dreckigen Welt voller Zuhälter und Kleinganoven, versucht ein gewisser Ray Carney sauber zu bleiben. Deshalb studiert er. Ein Professor der Betriebswirtschaft erklärt ihm, wann die beste Zeit für die Buchführung sei: Sein Vater habe die “mitternächtliche Mußestunde bevorzugt”. Vor der Erfindung der Glühbirne sei es nämlich üblich gewesen, in zwei Etappen zu schlafen. Die erste begann kurz nach der Abenddämmerung, denn: “Wenn es kein Licht gab, (…) welchen Sinn hatte es dann, aufzubleiben?” Nach vier Stunden wurde man von einem inneren Wecker aus dem Schlaf geholt – für etwa zwei Stunden, dann legte man sich wieder hin und schlief bis in den Morgen durch. Kann das, was ich da las, wirklich wahr sein? Ich begann zu recherchieren. Im Internet stieß ich auf einen Historiker namens Roger Ekirch und auf einen Aufsatz, den er 2001 veröffentlicht hatte: Sleep we have lost. Darin berichtet Ekirch, er habe Hunderte Tagebücher, Romane und Zeitungsartikel aus der vorindustriellen Zeit ausgewertet und dabei immer wieder Hinweise auf den zweiphasigen Schlaf gefunden.  Die Stunden dazwischen nannten die Briten the watch, die Franzosen dorveille, ein Kofferwort, das so viel wie “Wachschlaf” bedeutet. Dieser dorveille galt als Zeitfenster der Muße, der Fantasie. In Cervantes’ Don Quijote beschimpft der Held einmal seinen treuen Knappen Sancho Panza, weil der in einem Stück durchschlafe – und nicht, wie allgemein üblich, nach dem “ersten Schlaf” aufwache, um mit seinem Don die großen Fragen der Menschheit zu diskutieren. Benjamin Franklin soll mitten in der Nacht “kalte Luftbäder” genommen haben – eine schöne Art, auszudrücken, dass er nackt am offenen Fenster saß –, um dann mit frischem Kopf an Erfindungen zu tüfteln. Andere hatten zwischen Schlaf und Schlaf einfach Sex. In meinem Kopf wuchs ein Gedanke: Kann es sein, dass in Wirklichkeit nicht mein Schlaf gestört ist, sondern die Gesellschaft, in der ich lebe? Die Elektrizität, Botin der Moderne, die dem Menschen Licht brachte, den Thermomix und Internetpornos, hatte sie die Tür zugeschmettert zur mystischen Welt des dorveille? […] Der ganze Text bei ZEIT Online

Atme, Bruder!

Nach einer illegalen Silikoninjektion liegt Martin im Sterben. Seine Schwester nimmt den Kampf auf – gegen Tod und Täter Erschienen in ZEIT Verbrechen, Oktober 2022 / Fotos: Neven Allgeier Seit Stunden fließt der Atem schwerer.Der Körper ist sein Käfig.Noch 213 Tage Leben. Auf dem Ledersessel im Wohnzimmer des elterlichen Bauernhäuschens hockt Martin, tippt auf dem Handy rum und klagt der Familie, dass er sich krank fühle. Der Kreislauf. Daniela, die 25-jährige Schwester, wundert sich über sein so anfälliges Immunsystem. Sie wünscht ihm gute Besserung und fährt ins Büro, der Vater zu seiner Sparkasse, die Mutter macht sich an den Haushalt. Es ist Freitagmorgen, der 26. Juli 2019. Seit Tagen trocknet das Land unter dem stickigen Sommer aus. Martin bleibt auf dem Ledersessel zurück. Noch drei Wochen, dann fängt er seine neue Stelle als Busfahrer an. Er kann es kaum erwarten. Vor einiger Zeit hatte Martin mal ein ausrangiertes Feuerwehrauto, ein Löschfahrzeug, Iveco-Magirus 120-25, 256 PS auf 12,7 Liter Hubraum, Unterhalts- und Benzinkosten unbezahlbar. Davor fuhr er einen olivgrünen riesigen Mercedes Vario, den er mit Hunderten Aufklebern beklebt hatte: »Klar bist du schneller, aber ich bin vor dir«. Die Bärentatze der Bear-Community, Regenbogenflaggen. Seine Eltern erzählen gerne jedem, wie sich am Tag, an dem er den Wagen das erste Mal vor dem Bauernhaus parkte, das Wohnzimmer verdunkelt habe. Bei seinem alten Job, Buslinie 60 ist er gefahren, hatten die Schulkinder ihm am letzten Tag Geschenke und Süßigkeiten mitgebracht. Martin war immer gut mit ihnen klargekommen. Er kündigte nur, weil der Chef nicht mehr richtig zahlte. Gerade in diesem Moment geht die innere Zerstörung längst vor sich. Mit jedem Schlag, den Martins Herz tut, fließen durch den Blutstrom seiner Venen unbemerkt kleinste Silikontröpfchen. Ungestört passieren sie das Herz und bewegen sich weiter zur Lunge, doch dort ist der Fremdstoff allmählich zu groß für die immer feiner werdenden Blutgefäße. Die Tröpfchen ver- stopfen sie und lagern sich dort ein. Mit jeder Stunde nimmt Martins Lunge weniger Sauerstoff in den Körper auf. Atemnot. Am Abend fährt er ins örtliche Krankenhaus. Computertomografie des Thorax: Bei Verdacht auf atypische Pneumonie zeigt sich ein ungewöhnlicher Befall der Lungen. Weiß wie eine Qualle im Ozean leuchtet […] Der ganze Text in ZEIT Verbrechen, Ausgabe 17

Domiziana: Wie man per TikTok die Spitze der Charts erklimmt

Wir haben die Frau hinter dem Megaerfolg „Ohne Benzin“ getroffen. Erschienen in Vice, Juli 2022 „Ohne Benzin“ ist Domizianas einziger Song. Und wahrscheinlich auch der einzige Song für uns, der einzige Song für mich und meinen Sommer. Der Beat passt zu meinen Schritten, wenn ich zwischen Parks und der Bar und dem See am nächsten Morgen wechsle. Ich weiß, dass mir der Sommer steht. Über 36 Millionen mal wurde „Ohne Benzin“ bislang auf Spotify gestreamt. Autotune, schneller Beat, ein catchy Refrain für TikTok. Alles passt zu gut zu unserem Jetzt. Und alles, was so gut zu unserem Jetzt passt, scheint fast konstruiert. Ihr Pony wirkt maßgeschneidert. Ich stelle mir vor, wie ihr jeden Morgen ihre Outfits so angezogen werden, wie Köchinnen in Sternerestaurants die Blumen und Kräuter auf dem Teller anrichten, mit einer Pinzette. „Ohne Benzin“ und die Persona Domiziana sind präzise.  Bis vor kurzem kannte sie noch niemand. Veröffentlicht hat sie bis zu unserem Treffen nur zwei Titel – „Ohne Benzin“ und eine schnellere Version desselben Songs. Mit „Ohne Benzin (1,1 Speed Version)“ wurden auf TikTok schon über 116.000 Videos untermalt. TikTok hat den Weg zum musikalischen Erfolg verändert. Der Algorithmus ist unvorhersehbar. Und plötzlich sind Songs populär, deren Refrain sich einfach unter Videos loopen lassen. Weil „Ohne Benzin“ auf der Plattform so beliebt war, landete der Song  an der Spitze der deutschen Charts.  Ihre PR-Managerin sitzt vor einem Café in Neukölln. Die Fransen der rosafarbenen Sonnenschirme flattern im Wind. Domiziana sei gerade noch auf Toilette. Wir setzen uns gegenüber voneinander hin. Sie wäre froh, wenn nur wenig über das Thema TikTok gesprochen würde, sagt ihre Managerin. […] Der ganze Text hier.

Ärzte und ihre Grenzen

Ein französisches Gesundheitszentrum hat sich zum Ziel gesetzt, gerechte Medizin zu praktizieren. Kann das funktionieren?, fragt unsere Autorin, selbst werdende Ärztin. Erschienen in REPORTAGEN, Juli 2022 Diese Geschichte beginnt mit einer Autofahrt auf dem Rücksitz eines blauen, zerbeulten VW-Busses. Hinaus aus Marseilles Zentrum, weg vom malerischen alten Hafen, den Museen und dem Meer. Vorbei an arabischen Fleischereien, Obstläden; die Schicht aus buntem Plastikmüll, die Strassengräben und Grünstreifen bedeckt, wird immer dicker, rechts und links vorbeizischende Scooter hupen immer aggressiver. Dann hinauf auf die Autobahn. Bis hinter den Lärmschutzmauern voller greller Graffiti die ersten schmutziggrauen Betontürme auftauchen, manche nur einige Stockwerke hoch und so nah, dass die auf den Balkonen trocknende Wäsche fast greifbar scheint, andere über sechzig Meter in die Luft ragend, verloren in der weiten Landschaft, als hätte sie jemand dort abgesetzt und vergessen. Cités nennen die Franzosen diese Sozialwohnungssiedlungen, sie sind Symbol für Armut und Elend, Aussichtslosigkeit und das réseau, das alles durchziehende Netz des Drogenhandels. Eine dieser Cités heisst in kaum zu überbietendem Zynismus Kalliste, «die Schöne» auf Altgriechisch: neun Rechtecke, alphabetisch durchbuchstabiert. Die Gebäude sind von jahrelanger Verwahrlosung gebrandmarkt, H und B wurden bereits abgerissen. Meterhoch kriechen schwarze Schimmelflecken die Fassaden hinauf, die Balkone wirken absturzgefährdet. Und zwischen all diesem Beton steht, umgeben von Bäumen und einem Garten, ein rotes, dreistöckiges Landhaus, mit Dachfirst und einer schiefen Treppe aus hellgrauem Stein: das Château en Santé, das Schloss der Gesundheit. […] Der ganze Text hier oder in REPORTAGEN #65

Der Hintergrundmusiker

Denis Berger aus Heilbronn produziert heimlich Beats, schickt sie an einen der wichtigsten Produzenten im Hip-Hop – und wird als Pvlace zu einer zentralen Figur in dem Milliardengeschäft. Die Frage ist: Wie lange geht dieses Märchen? Erschienen in SZ-Magazin, Mai 2022 / Fotos: Julian Baumann Sechs Kameras zielen auf ihn. Drei filmen seine Kunst. Drei sein Leben. Denis Berger sitzt an diesem Februarnachmittag 2022 in einem kleinen Tonstudio. Gleich zwei Filmteams haben sich um den blassen Jungen versammelt, der mit den Augen die richtige Linse sucht, in die er sprechen soll. Die einen wollen die Geschichte vom Multi-Platin-Produzenten »Pvlace«. Als Pvlace also soll er den begeisterten Amerikanern erklären, wie er arbeitet, wie die 30 Sekunden Musik entstanden sind, die man gleich hört. Als Denis Berger hockt er inmitten eines deutschen Doku-Films über sich selbst: über den Heilbronner Jungen, der es aus der Sozialbausiedlung hierher geschafft hat, in ein Hochhaus am Sunset Boulevard, West Hollywood, Los Angeles. Und den diese Musikschnipsel zum Multi­mil­lionär machten. Berger beugt sich vor den Laptop, schwarzes, weites T-Shirt, die Haare hellblond gefärbt, ein Kreuz um den Hals, Ohrringe, von denen einer so viel kostet wie sein längst verschenkter Polo. Neonröhren werfen ein bläuliches Licht auf sein jugendliches Gesicht. Er schaut in eine der Kameras. »Hi, Leute, was geht? Ich bin Pvlace … Ach fuck«, sagt er, klatscht sich auf die gerötete Wange, dreht sich mit dem Stuhl einmal um die eigene Achse, will die Anspannung loswerden wie ein Hund, der sich schüttelt. Berger ist die vielen Kameras nicht gewohnt, seit ein paar Tagen folgen sie ihm, seit die Dreharbeiten begonnen haben für die Dokumentation, die auf einer großen Streaming-Plattform laufen soll. Eigentlich scheut er so viel Auf­merksamkeit. Er geht kaum raus, zu Hause im Kaufland tippen ihm ­Jugendliche auf die Schulter, hey, wir feiern dich krass, dürfen wir ein Foto machen? Jetzt macht er, was sie wollen, die Filmcrew aus Deutschland, die amerikanischen Videoleute. Denis Berger, 25 Jahre alt, müsste nie wieder arbeiten in seinem Leben. Er hat so viel verdient, dass er elegant darüber schweigt. ­»Pvlace« nennt er sich als Produzent, man spricht es »Palace«, englisch für Palast. »Ich hab alles erreicht, was man im Hip-Hop erreichen kann«, sagt er. Es ist nicht überheblich. Es ist wahr. Schaut man mal nur auf Zahlen – sechsmal Billboard-Nummer-eins, neunmal Platin, einmal Gold – und darauf, wie viele Menschen seine Musik hören, findet man aktuell nichts Vergleichbares in Deutschland. In seiner Liga spielen Namen wie Drake, Future, Chris Brown, Gucci Mane, die Elite der Hip-Hop-Szene. […] Der ganze Text in SZ-Magazin oder hier.

Obsession

Er sieht in ihr die Frau des Lebens. Sie will überhaupt nichts mit ihm zu tun haben. Eine wahnhafte Tragödie nimmt ihren Lauf. Erschienen in DIE ZEIT, März 2021 / Illustration: Thomke Meyer Der Junge traf das Mädchen in einer Gegend, in der vor allem die Hoffnung wohnt, eines Tages von hier wegziehen zu können. Er traf sie auf einer kargen Betonfläche im Hamburger Süden, die Bewohner ihren „Dorfplatz“ nennen. Oft lungert hier endlos lange eine Gruppe jugendlicher Kiffer an den Sitzbänken herum. Einer von ihnen ist Mustafa D. Gerade läuft er auf ein Mädchen zu, das ihn noch gar nicht wahrgenommen hat. Schon eine Zeit lang hat er beobachtet, wie sie neuerdings täglich über den Dorfplatz spaziert. Er hat keine Ahnung, wo sie plötzlich hergekommen ist. Ihr Gesicht, das sie mit einem straff gebundenen Kopftuch umrahmt, macht einen hellen, freundlichen Eindruck, und außerdem ist es gerade Frühling geworden, März. Er holt sie ein, passt sie ab, sagt mutig zu ihr so was wie: Hey, hey! Wie heißt du? Ich find dich voll hübsch. Kann ich deine Nummer haben? Aysun (Name geändert) bleibt stehen. Der Kerl kommt ihr seltsam vor. Er ist groß, ziemlich schlaksig. Sein Gesicht unrasiert. Er hat etwas Ungepflegtes an sich, ohne dass sie genau festmachen könnte, woran es liegt. Seine Art vielleicht? Ganz allgemein wirkt er jedenfalls sonderbar unterwürfig und hat dabei einen verschlagenen Blick. Gleichwohl will Aysun freundlich bleiben. Sie nutzt die Ausrede, die man von einer streng erzogenen Muslimin erwarten könnte: Ich kann dir meine Nummer nicht geben, du musst erst mal mit meinen Eltern sprechen. Aber Mustafa lässt nicht locker, verwickelt sie ungelenk in ein Gespräch, so erinnern das beide später. Aysun kommt gerade von ihrem Praktikum bei einer Ärztin. Sie ist 17. Nach dem Abi will sie Medizin studieren. Sie fragt den Jungen, ob er auch aufs Gymnasium geht. Er behauptet, seinen Realschulabschluss längst in der Tasche zu haben, was glatt gelogen ist. Die Schule hat er in der Achten geschmissen. Inzwischen ist er 23. Er hatte einfach nicht begriffen, dass man ein Zeugnis braucht, um einen Job zu finden. Seine türkischen Eltern hatten vom deutschen Bildungssystem keine Ahnung. Und so lungert er auf dem Dorfplatz rum, treibt durch die Tage, Wochen, Monate seiner müden Existenz. Wo das enden soll? Bis gerade wusste er das auch nicht. Aber jetzt steht immerhin dieses wunderbare Mädchen vor ihm. Das soll was ändern! […] Der ganze Text in DIE ZEIT oder hier.

Und zwischen ihnen steht ihr achtjähriges Kind

Ein Vater und eine Mutter streiten um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter. So wie jedes Jahr Zehntausende Eltern in Deutschland. Doch dann geht es plötzlich um Vergewaltigung, Mord und eine Entführung. Erschienen in DIE ZEIT, Februar 2021 / Illustration:  Eleanor Taylor Martin Koch* sitzt auf einer leeren Hotelterrasse in Rijeka, Kroatien. Vor ihm glitzert das Meer im Sonnenuntergang. Wellen platschen gegen die Klippen, ein Frachtschiff gleitet vorüber, in den dürren Ästen eines Busches klettert ein Kätzchen. Martin Koch hat dafür keinen Blick. Er zieht an einer Zigarette, wohl der dreißigsten heute. Er ist nach Kroatien gekommen, um endlich, nach vier Jahren des Vermissens, seine kleine Tochter in die Arme zu schließen.  Dann beginnt er, von der Frau zu erzählen, die ihm erst den Atem und dann das gemeinsame Kind raubte. Von der Frau, die ihm einen Mord anhängen wollte. Der Frau, die ihn einen Kindesvergewaltiger nannte.  So sagt er das.  Zur selben Zeit, nur ein paar Kilometer weiter, kauert Sandra Busch auf der Pritsche einer engen Gefängniszelle. Es stinkt nach Kot. Eine Mitinsassin hat einen künstlichen Darmausgang und bräuchte dringend einen Arzt, aber das scheint hier niemanden zu interessieren. Sandra Busch ist mit ihrer Tochter nach Kroatien gekommen, um sie vor ihrem Vater zu schützen. Dem Mann, der sein eigenes Kind vergewaltigt hat. Der dafür gesorgt hat, dass die Polizei ihr einfach die Kleine wegnahm. Und der ihre ältere Tochter umgebracht hat. So sagt sie das. […] Der ganze Text in DIE ZEIT oder hier.

Homecoming: Zürich

Die Häuschen an der Limmat sind fein säuberlich aufgereiht – wie die Hähnchen und Rinderfilets in den Kühlschränken der Globus Delicatessa. Erschienen in Vice, Dezember 2021 Ich bin nicht in Zürich aufgewachsen. Ich habe aber einige Jahre dort gewohnt, bevor ich nach Berlin gezogen bin. In Zürich habe ich angefangen, jemand zu werden. Wenn die wachsenden Arme und Beine plötzlich proportional mit dem Körper übereinstimmen, dann darf man das mit dem Leben endlich mal ein bisschen ausprobieren. Zürich war also mal dafür da, damit ich etwas ausprobieren konnte. Und jetzt ist Zürich dafür da, damit ich etwas vermissen kann. Wenn ich sage: „Ich fahre nach Hause“, dann meine ich Zürich. In Zürich wurde ich cool, das findet zumindest ein Freund von mir. Er kennt sogar den genauen Moment. Als ich nach einer Garderobenschicht um 8 Uhr morgens bei einer Hausparty auftauchte, bei der man mit einer Leiter über den Balkon reinklettern musste. Auf dieser Leiter wurde ich also cool und eine halbe Stunde später sehr betrunken. Versucht habe ich es davor aber schon oft. Also das Coolwerden. Einen starken Drang cool zu sein, hatte ich das erste Mal, als ich S kennengelernt habe. Die Personen in diesem Text sind anonym, weil sie ihr Partyverhalten nicht offenlegen wollen. An S denke ich manchmal, auch wenn wir eigentlich kaum noch Kontakt haben. Im Sommer zum Beispiel. Im Sommer schaute ich diesen Film, in dem sich mittelmäßige, depressive Männer die ganze Zeit ermutigend auf die Schulter klopfen. Der Kinosessel klappte nach hinten, wenn ich mich zurücklehnte. Ich wollte dann gerne meine Füße aus meinen Schlappen ziehen und sie auf den Sitzlehnen der Reihe vor mir abstützen. Doch dann entschied ich mich dagegen. Denn bei mir würde das nicht cool aussehen, sondern so als könnte ich mich nicht benehmen. Eine Frau wie S könnte das. Ihre Wohnung liegt im Kreis 1. Ich hatte ganz in der Nähe in einem Imbiss für gesunde Salate und Bowls gearbeitet und das ständige Lächeln gelernt.  […] Der ganze Text hier.

Es geht rund!

Aus einem „Freedom Day“ wurde nichts, stattdessen: noch ein Matschwinter mit Corona. Seit Beginn der Pandemie träumen wir von ihrem Ende – dabei sollten wir zyklisch denken. Erschienen in Süddeutsche Zeitung, 25.12.2021 Ich hatte sehr früh eine Idee, wie alles endet. Es war April 2020, die Kinder von nebenan malten mit Fensterfarben in Regenbogenoptik „Bleibt zu Hause“ an die Fenster und ich spazierte mit meinem Vater stundenlang durch mittelfränkische Wälder. Dienstag war derselbe Mist wie Samstag, ich sah die Zeit nur an den Ästen voranschreiten, an denen allmählich Blätter sprießten, aber mein Vater versprach: „Du wirst sehen, wenn das vorbei ist, werden die Menschen feiern, wie sie es nie getan haben.“ Trotz Grundskepsis (mein Vater schwor bereits, er habe nie Marihuana geraucht und Trump würde nicht Präsident, für beides gibt es gesicherte Gegenbeweise), flackerten in meinem mit Zoomkacheln gefliesten Hirn Lampions, Lichterketten und ins Abendrot gereckte Champagnergläser auf. In einer Zeit, in der man nicht wusste, ob jemand eine Wodkafahne oder sich die Hände desinfiziert hat, stellte ich mir vor, wie unser Nachbar meine Mutter umarmte, obwohl sie seit zwei Jahren einen Reichskrieg elsässischer Ausmaße um 15 Zentimeter Gartengrundstück führten. Er würde mit einem fränkischen Bocksbeutel (Würzburger Silvaner) runterkommen, seinen Filzhut abnehmen und uns beschwipst zuzwinkern, man müsse den Paragraf 30, Absatz 1 des Bayerischen Grundstücksverkehrsgesetzes ja nicht so ernst nehmen. In einer Zeit, in der sich Regionalbahn-Passagiere vor der Ausgangstür herumdrückten, als speie der Türknopf Feuer, stellte ich mir vor, wie ich als Hobby-Portier dann aussteigenden Fahrgästen zum Abschied die Hand schüttelte. Ich träumte von dichten Kassenschlangen, in denen sich die Kanten der Tiefkühlpizzas fast liebevoll in den Rücken des Vordermanns bohrten. Ach, das ganze Land war ein einziges großes Fest, die Deutschen trauten sich von den Bierbänken runter und tanzten auf der Straße, ganz ohne drei Promille, „Fliegerlied“ oder „Hölle Hölle Hölle“, sie tanzten zu Peter Sarstedts „Where Do You Go to My Lovely“ , der Song lief in Homburg wie in Finsterwalde, und da ward Liebe zwischen allen Völkern, sogar zwischen Schalke und Dortmund. […] Gesamter Text in der Süddeutschen Zeitung oder hier

Oberlin-Morde: Eine funktionsfähige Fassade

Erschienen in DIE ZEIT, 01.12.2021/ Foto: Benedikt Herber Ines R. galt als eine ausgezeichnete Pflegerin, freundlich, mütterlich und liebevoll. Doch dann lief sie Amok und tötete vier Menschen. Am Abend des 28. April 2021 erreicht ein Notruf die Polizeileitstelle Potsdam. Mann am Telefon: „Ja, wie soll i dette jetz am besten erklären?“ Polizist: „Einfach frei von der Leber weg.“ Mann: „Meine Frau kam voll durch den Wind von der Arbeit. Völlig psychotisch. Dann hat sie mir erklärt, dass sie jemandem die Kehle durchgeschnitten hat.“ Polizist: „Was?“  Mann: „Hab bei denen auf der Arbeit angerufen, die haben das selbst gar ned gemerkt. Ich hab sie gebeten, aufs Zimmer zu schauen. Es scheint zu stimmen.“ Polizist: „Wo arbeitet Ihre Frau denn?“ Mann: „Im Oberlinhaus … Ich zittere am ganzen Körper.“  Polizist: „Welche Station?“ Mann: „Thusnelda-von-Saldern-Haus.“ Polizist: „Achten Sie bitte auf Ihre Frau, dass sie sich nicht wäscht und ihre Sachen nicht wechselt. Ich schicke Ihnen dann die Kollegen hin. Alles klar, Herr R.?“ Sieben Monate nach diesem Anruf, Ende November, betritt der Mann, der Thimo R. heißt und 57 Jahre alt ist, den Gerichtssaal. Er winkt kurz in Richtung Anklagebank, doch seine Frau verzieht keine Miene. Starr blickt Ines R. geradeaus, ihre Augen bleiben so leer und ausdruckslos, wie sie es bisher über alle Prozesstage hinweg waren. Diese 52-jährige Frau, über die alle Zeugen sagen, sie sei vielleicht ein wenig wortkarg gewesen, aber immer liebevoll, zuvorkommend und aufopfernd; die vielleicht etwas empfindlich auf Geräusche reagierte, wenn das Radio mal wieder zu laut aufgedreht war – diese Frau soll vier ihrer wehrlosen Schutzbefohlenen, Menschen mit schweren Behinderungen, ermordet haben. Ein fünfter schwebte in Lebensgefahr. Ihre Leutchen, wie sie sie nannte.  Der Prozess, der dieser Tage in Potsdam verhandelt wird, dreht sich nicht nur um eine Frau, die Amok gelaufen ist, sondern auch um die miserablen Bedingungen in der Pflege. Er offenbart, dass auch eine kirchliche Einrichtung wie das Oberlinhaus, „das diakonische Kompetenzzentrum für Teilhabe, Bildung und Arbeit“, bei Kontrollen stets mit Bestnoten ausgezeichnet, schwere strukturelle Probleme hat. […] Gesamter Text bei ZEIT Online

Ganz mein Humor

Frauen dürfen regieren, sie dürfen ins All. Aber lustig sein? Um Gottes willen. Carolin Kebekus und die Frage, warum gute Pointen oft nicht reichen, um als Komikerin in den Late-Night-Olymp aufzusteigen. Erschienen in Süddeutsche Zeitung, 15.10.2021 Mittag im Gaffel am Dom, ein Brauhaus mitten in Köln. Die Kupferfässer leuchten, es riecht nach Bier und gebratenem Fleisch. An diesem Dienstag im September geht eine schmale Frau hinter einem großen PR-Agenten an den Tischreihen entlang, an denen man mit zurückgekrempelten Ärmeln ausladend Steaks zersägt. Die Nasen tief über den dampfenden Tellern, merken die Gäste nicht, dass an ihnen gerade die lustigste Frau Deutschlands vorbeiläuft. Beide, das Brauhaus und die Komikerin Carolin Kebekus, gehören fest zur Stadt Köln, ihre Kollegin Anke Engelke nannte Letztere mal „Stadtinventar“. Einmal die Treppe hoch liegen Räume, in denen man Kebekus laut eigener Aussage zur Karnevalszeit „schon in ganz anderen Zuständen“ gesehen habe. Zwei Stockwerke drüber residiert der Verlag Kiepenheuer & Witsch, in dem Carolin Kebekus gerade ein feministisches Buch veröffentlicht hat. Der Sound darin ist persönlicher, wütender, wissenschaftlicher als vieles, was man von ihr kennt. Und es liegt mehr als ein paar Stockwerke von ihrer einstigen Rolle als Prollfrau entfernt. Aber über diese Zeit, in der sie noch Witze über Claudia Effenberg machte, die ihr „auf den Sack geht“, will sie an diesem Tag nicht viel reden. Auf dem Buchcover thront Kebekus, die Hand auf weißem Hermelinfell gebettet. Lange, goldene Kronenzacken ziehen sich über den Einband, auf dem steht: „Es kann nur eine geben“. Damit meint Kebekus sich selbst. […] Gesamter Text in der Süddeutschen Zeitung oder hier

Warum es besonders wehtut, von diesem Sommer Abschied zu nehmen

Der Sommer ist bald vorbei und ihr müsst wieder bei jedem Schluck Weißwein seufzen. Erschienen in Vice, September 2021 Ich bin in Rom und es ist meteorologischer Herbstanfang. Ich habe elf Mückenstiche. Die Stechmücken halten sich nicht an den Herbstanfang, also tue ich es auch nicht. Ich schwitze weiter vor mich hin, als wäre es nicht bald Oktober. Auf meinem linken Oberschenkel zähle ich vier Mückenstiche, zwei auf meinem Bauch, fünf auf Füßen und Knöchel. Vielleicht sind es eigentlich mehr, aber ich kann meinen Kopf nicht richtig drehen, um meinen Rücken im Spiegel zu begutachten. Dort könnten noch einige sein. Aber ich habe Muskelkater. Ich habe mich vor ein paar Tagen verrenkt und schlecht im Bett dieses Typen geschlafen. Er könnte vielleicht als Summer Romance durchgehen, wäre es die letzten Monate nicht so kalt gewesen. Ich sei es auch, hat er mir gesagt. Kalt. Vielleicht kommt der Muskelkater auch vom Wandern. Eins von beidem. Es ist ja schließlich gerade noch Sommer. Man ist immer entweder verknallt oder draußen. Demnach habe ich eigentlich alles richtig gemacht. Doch ich bin immer unzufrieden mit meinem Sommer. Ich habe dieses Jahr keinen Sonnenbrand bekommen und jetzt ist es wahrscheinlich zu spät, um noch an einem zu arbeiten. Nur zweimal bin ich an den See gefahren. Wahrscheinlich, weil ich es hasse, mit dem Fahrrad in eine S-Bahn zu steigen und mir an den Pedalen die Schienbeine aufzuschürfen, wenn sich Leute an mir vorbeidrängen. Trotzdem kommt mir zweimal zu wenig vor. Vielleicht darf ich den Sommer gar nicht verabschieden, wenn ich ihn gar nicht wirklich begrüßt habe. Nur eine Nacht habe ich komplett draußen verbracht. Ein paar Freunde und ich sind nach Brandenburg in einen Wald gefahren, um zu tanzen. An dem Abend waren wir so gut im Mückenstiche bekommen und unsere Jacken zu Hause vergessen, als würden wir das ganze Jahr nichts anderes tun. […] Der ganze Text hier.

»Vom Feld in die Regale beträgt die Marge auch mal 1000 Prozent«

In seinem Buch »Agromafia« beschreibt Oliver Meiler, wie die Mafia am Export von Tomaten, Olivenöl und Mozzarella verdient. Im Interview gibt der SZ-Journalist Tipps, wie man beim Einkauf den Kampf gegen die Clans unterstützen kann. Erschienen in SZ-Magazin.de, 16.6.2021 // Foto: D. Georgiev, Getty Images SZ-Magazin: Herr Meiler, Sie schreiben in Ihrem Buch, die Lebensmittelindustrie sei zum zweitwichtigsten Geschäft der italienischen Mafia geworden – nach dem Drogenhandel. Sind Tomaten das neue Kokain?Oliver Meiler: Ja, das kann man so sagen. Tomaten sind ein großartiges Margengeschäft, ähnlich wie Kokain. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die pomodori, die Goldäpfel, wie die Italiener zu den Tomaten sagen, legal sind und wunderbar nach Süden und Sonne schmecken. Nehmen wir eine gepriesene Sorte, etwa die Tomate aus Pachino im südlichsten Sizilien: Die Mafia hat die ganze Lieferkette unterwandert, vom Anbau auf eigenen Äckern über den Handel mit Düngemitteln, mit Plastikplanen für die Treibhäuser, mit Holzpaletten für den Transport, mit den grünen Plastikkörben, mit dem Transport selbst – alles unter der Kontrolle der Clans. Im Großmarkt von Vittoria, dem größten im Süden Italiens, bestimmen sie dann die Preise für ihre Ware. Zwei Söhne von Bossen der örtlichen Clans saßen sogar im Gremium, das darüber entscheiden sollte, welche Marken die höchsten Qualitätssiegel verdienen. Natürlich waren ihre eigenen Marken dabei. Und von den Gütesiegeln hängt ab, wie viel die Tomate am Ende ihrer Reise kostet, in Berlin oder New York. Und das soll so interessant sein wie Kokain?Fast. Vom Feld in die Regale beträgt die Marge auch mal 1000 Prozent. Ein tolles Geschäft, und es ist völlig risikofrei. In den Lastwagen mit den Früchten und Gemüsen transportiert die Mafia auch gerne anderes: Bargeld, Waffen, auch mal einen Boss auf der Flucht vor der Justiz. Kreuz und quer durch Europa. Das haben Ermittlungen gezeigt. Geht ganz einfach, an den Grenzen wird ja kaum noch kontrolliert. Die Drogen aus Südamerika dagegen müssen auf komplizierten Wegen nach Europa gebracht werden. Auf dem langen Weg will eine Menge Leute geschmiert werden, und das Koks muss gestreckt werden – das ist eine logistische Superanstrengung. Tomaten sind dagegen ein Spaziergang. Die kleine Pachino-Tomate kostet auf den Märkten in Berlin, London, New York dann ein halbes Vermögen. Die besten tragen das Qualitätssiegel IGP, das steht für »Geschützte geografische Angabe«. Je nach Saison sind sie in der Gemüseabteilung von Metro und Edeka erhältlich – oder man bestellt sie in Onlineshops, es gibt sie auch in Dosen. […] Gesamter Text online auf SZ-Magazin.de

Der Schmetterlingseffekt

Was braucht es, um den Apollofalter zu schützen? Einen staatlich beauftragten Biologen, Wachmänner und riesige Schutthalden. Denn dieses Insekt darf auf keinen Fall aussterben. Über die Bedeutung eines Flügelschlags. Erschienen in Süddeutsche Zeitung, 5.6.2021 Am Anfang dieser ganzen verzweigten Geschichte steht ein Mann auf einem Problem. An einem Hang vor einem Steinbruch schaut Adi Geyer auf das, was unter seinen Turnschuhen passiert. Das ungeübte Auge sieht: Steine. Dazwischen einzelne Grashalme, etwas Moos und andere Pflänzchen, die vor sich hinwuchern, und über deren Existenz sich der normale Mensch wenig Gedanken macht. „Aber“, sagt Adi Geyer, „man muss die Apollofalterbrille aufsetzen.“ Mit der sieht man einen Kampf ums Überleben, Konkurrenz um die Vorherrschaft, Gebietskonflikte. Da unten passiert einiges. Es treten an: Moos, Gras und Büsche. Gegen: den Weißen Mauerpfeffer. Für letzteren sieht es schlecht aus. Geyer schaut mit der Apollofalterbrille in die Zukunft: „Wenn du in zehn Jahren wieder herkommst, haben sich Gras und Büsche durchgesetzt. Und irgendwann ist die ganze Fläche zugewachsen.“ Gut für das Moos, schlecht für den Weißen Mauerpfeffer, Sedum album oder „der Sedum“, wie ihn Geyer nennt. Er ist die Wurzel seiner Arbeit und das erste Glied in einer langen Kette, an deren Ende ein Falter seine zarten Flügel schwingt. […] Gesamter Text in der Süddeutschen Zeitung oder hier

Bingo

In einem Potsdamer Seniorenheim kehrt nach einem Jahr Pandemie etwas Normalität zurück. Fünf Damen treffen sich endlich wieder zum Spiel. Erschienen in DIE ZEIT, 9.5.2021 Da sitzen sie also wieder. Im Turm, an den weißen Tischdecken. Frau Vösgen Kaffee mit Sahne, Frau Endrusch Cola mit Weinbrand der Marke Goldkrone. Vier Frauen, die Stifte schon in der Hand, und sie warten, wie immer, auf Frau Back. Sie sagen „typisch“, sie sagen „Ach, die Frau Back“. Ein Chor aus Kichern, Spötteln, „Stößchen“, der das Lied der Normalität singt. Dass sie „das alles“ erlebt, hätte Frau Vösgen nicht gedacht. „Das alles“ ist heute, ein fast normaler Donnerstag, und „das alles“ sind die Donnerstage im vergangenen Jahr, auf die auch Frau Vösgen in ihrem 94-jährigen Leben nicht vorbereitet war. Donnerstage mit Besuchsverbot, mit Ausgangsverbot, mit Umarmungsverbot, mit Masken vor dem Lächeln, mit Plexiglasscheiben zwischen Enkel und Oma. Donnerstage mit Einsamkeit. Ein Donnerstag mit Heiligabend ohne Weihnachtsfeier mit der Familie. Donnerstage, die mit dem Mittwoch und dem Freitag verschmolzen, seit mehr als einem Jahr. Eine Handleserin habe ihr mit 17 prophezeit, sie werde mit 60 sterben, erzählt Frau Vösgen. Mit 70 diagnostizierten Ärzte ihr den baldigen Tod. Als einer von ihnen sie auf der Patientenliege sah, rief er: „Ich dachte, Sie liegen längst unter der Erde!“ Nun, Frau Vösgen ist immer noch hier. Sie ist nur froh, dass ihr lieber Wum „das alles“ nicht erleben musste. Vier Jahre ist er jetzt tot, aber was heißt das schon, wenn man 69 Jahre verheiratet war? Manchmal wache sie immer noch aus wirren Träumen auf und wolle sie ihm erzählen. Aber was man ändern kann, soll man ändern und was man nicht ändern kann, damit muss man sich abfinden, findet Frau Vösgen. […] Gesamter Text in DIE ZEIT oder hier

Seine Gedanken sind Gedichte

Elias leidet am Locked-in-Syndrom. Er kann sich nicht bewegen und nicht sprechen. Aber er kann schreiben. Für ihn löst sich in diesen Momenten die Not.  Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 04.4.2021 Die Reise beginnt immer mit einer Wahrnehmung. So wie jetzt, da er im Familiengarten außerhalb des Trubels der Basler Innenstadt sitzt. Der Tisch ist gedeckt, sporadisch zumindest, drei Tassen, eine Dose Instant-Kaffee und Creme-Schnitten, noch in Plastik verpackt. Der Himmel zieht zu, es könnte Regen geben. Ein kurzes Luftschnappen, ein kurzes Röcheln, Elias’ Atmung wird ruhiger. Sein Blick tastet sich den Garten entlang. Er sieht den Bauwagen, Lack bröckelt von der Holztür. Er spürt den Wind, er streicht ihm durchs dichte schwarze Haar. Er riecht den Duft der Nelken, die blühen drüben zwischen hohem Gras. Welche Wahrnehmung es diesmal sein wird, ist egal, sie ist nur ein Hilfsmittel, die Eintrittskarte in eine Welt, in der alles möglich ist. Wenn Elias sein Motiv gefunden hat, schreibt er Gedichte wie dieses: Die Wolken sagenkomm mit ich denke,irgendwann bin ich bereit den Wolkenweg aufzunehmenwerde mich fühlen wie ein König der Winde werde entlastet seinvon der Konfrontation mit meinen zwiespältigen Gefühlen ich bin dann erlöst und freiirgendwann bin ich bereit Wolkenweg – September 2018 Elias Dahler ist 25 Jahre alt und liebt Wörter. Selbst gesprochen hat er noch nie eines. Zumindest dann, wenn man unter „Sprechen“ versteht, Zunge und Lippen so zu bewegen, dass dabei Geräusche entstehen. Seit Elias auf der Welt ist, ist ihm das nicht möglich. Auch seine Arme und Beine kann Elias nicht bewegen. Elias leidet an einem Locked-in-Syndrom: Sein Körper ist fast vollständig gelähmt – nur seinen Kopf und seine Augen kann er bewegen. Geistig aber ist Elias gesund. Elias war ein Gefangener seines Körpers. Jetzt schreibt er Gedichte. Am 1. November 1995 kam Elias in einem Krankenhaus in Basel zur Welt. Während der Geburt hörte das Herz auf zu schlagen, für einige Minuten wurde sein Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt. Die Ärzte erklärten Dominik Dahler und Claudia Mani, Elias’ Eltern, dass ihr Sohn für den Rest seines Lebens an einer Zerebralparese leiden werde. Durch den Sauerstoffmangel seien Teile des Gehirns irreversibel geschädigt. Er werde sich niemals bewegen oder sprechen können. Ob er überhaupt Situationen begreife, sei ungewiss. Nur ein paar Gehminuten vom Rhein entfernt, in einem von Kletterrosen und Efeu bewachsenen Innenhof im Zentrum Basels, steht das Haus der Familie Dahler. Auf dem großen Echtholztisch, auf dem die Dahlers normalerweise zu Abend essen, liegen Kinderfotos und Zettel mit Zeichnungen und Gedichten verteilt. Bereits als Elias noch ein Baby war, seien sie davon überzeugt gewesen, dass er Situationen begreife, erzählt Dominik, der Vater, in melodischem Schweizerdeutsch. Er und seine Frau Claudia sind ein Lehrerehepaar, beide Mitte fünfzig. Es waren seine braunen Augen, die so klar wirkten, so aufmerksam, manchmal amüsiert. Immer hätten diese Augen Kontakt zu ihnen gesucht, sagt Dominik. Sie hätten zu ihnen gesprochen. Noch heute müsse Elias nur einen Raum mit vielen Menschen betreten – und alle Blicke seien auf diese Augen gerichtet. „Elias’ behandelnder Neurologe sagte einmal, das Gehirn eines Kleinkindes sei wie eine Knospe“, erzählt Claudia, die Mutter. „Trotz der Hirnverletzung könne niemand voraussagen, wie es sich entfalten werde. Dieses hoffnungsvolle Bild hat uns sehr geholfen.“ […] Gesamter Text bei Blendle

Wer ist eigentlich Generalleutnant Tanneberger?

Mein alter Busfahrer – ein geheimer Verbündeter von Wladimir Putin? Klingt unrealistisch, dachte unser Autor Gabriel Proedl. Aber ist es das auch? Für DIE ZEIT hat er sich auf eine Spurensuche begeben. Erschienen in DIE ZEIT, 31.3.2021 Mir war Jörg Tanneberger schon als Kind suspekt. Und als er mir jetzt sein Büro zeigt, muss er merken, dass sich unzählige Fragen bei mir aufgestaut haben. Er rollt seine Zunge, beißt darauf, seine Augen kneift er zusammen. Er gibt ein spitzes Lachen von sich, wie er es oft tut, wenn er jemanden in Staunen versetzt hat. „Es ist nicht das, wonach es aussieht“, sagt er. Auf seinem gläsernen Schreibtisch steht ein Monitor mit Bildern einer Überwachungskamera, daneben ein Satellitentelefon. Tanneberger lässt sich in seinen Bürostuhl fallen und erzählt: Wladimir Putin und ich hatten damals eine Absprache. Ein Treffen von ihm und Papst Franziskus stand bevor. Er wollte die Sanktionen gegen Kuba lockern und fragte mich, ob er mit Franziskus aushecken soll, sich gemeinsam mit Obama zu treffen. „Mach das“, sagte ich, „das ist deine Chance.“ Ich kenne Tanneberger, seit er mich zur Schule brachte und wieder zurück. Er ist Busfahrer der Linie 30 in meiner Heimatstadt Graz. Mit seinem sächsischen Akzent war er der Sonderling in dem Bezirk. Seine Uniform war schon damals anders als bei den anderen Busfahrern, nicht weiß-blau, sondern weiß-gold. Als ehemaligem Offizier stehe ihm das zu, sagte er. Vor allem aber fiel er auf, weil er mit den Fahrgästen das Gespräch suchte. Er unterhielt sie, half, gab Ratschläge. Ausgewählten Stammkunden erzählte er seine Lebensgeschichte: Generalleutnant in der Nationalen Volksarmee der DDR sei er gewesen, in Dresden habe er Putin kennengelernt – sie seien bis heute befreundet. Wenn diese Stammkunden mitfuhren, lehnten sie an der Fahrerkabine des Busses und fragten Tanneberger, wie es seinem „großen Bruder“ gehe. Dann erzählte er, von Putin und von seinen Aufträgen, die er neben dem Busfahren für den russischen Präsidenten erledigt hat. […] Link zur ganzen Reportage bei DIE ZEIT.

Im Netz der Lügen

Der 36-jährige Ralf Witte wird eines Morgens von der Polizei aus dem Bett geholt und verhaftet. Er soll ein junges Mädchen mehrfach grausam vergewaltigt und schwer verletzt haben. Doch Witte ist sich keiner Schuld bewusst. Für ihn beginnt ein Albtraum. Erschienen in ZEIT Verbechen, März 2021 / Foto: Rafael Heygster Ein Mädchen öffnet sein Tagebuch. Es bekam das Buch von der Englischlehrerin geschenkt. Dort soll es alle Dinge hineinschreiben, die es bekümmern. Das Mädchen nimmt einen Filzstift und schreibt: Ich packe es nicht mehr. Manchmal wünsche ich mir, dass ich tot bin, einfach weg bin, meine Ruhe habe, vergessen und einfach frei zu sein. Aber auch ich werde sie später alle fertig machen, einen nach dem anderen. So schnell werden die mich nicht los, so schnell nicht. Es ist aber so schwer und es tut weh zu leben, so vieles, was alles schon passiert ist, wo soll das hinführen, ich will nicht mehr die Hure von Papa sein. Draußen läuft noch alles in geregelten Bahnen. Früh ist es, fünf Uhr, halb sechs. Der Schienenschleifwagen fährt über die sich durchs Straßennetz ziehenden Gleise. Im Inneren drückt der Kompressor mit Tonnengewicht die Schleifsteine gen Boden. Sie kratzen über Schienen, Wasser spritzt aus Düsen, nimmt dem Eisen die Hitze. Vorn, in der Fahrerkabine, sitzt Ralf Witte. Er ist 36 Jahre alt. Seine Schicht geht gerade zu Ende. Er lenkt den Schienenschleifwagen in die Thurnithistraße, fährt in den Betriebshof, stellt den Wagen ab. Er nimmt seine Thermoskanne und geht zu seinem Auto. Es ist der 16. Mai 2001. Daheim legt er sich neben Kerstin und schläft ein. Für eine Stunde liegt das Ehepaar so beisammen, bis Kerstin aus dem Schlafzimmer schleicht, um Simon, ihren kleinen Jungen, zu wecken. Sie macht Frühstück, fährt ihn in den Kindergarten, kehrt zurück. Um zehn Uhr klingelt es an der Tür des Reihenhauses. Zwei Männer, Polizei. Ob ihr Mann zu sprechen sei? Der schläft, Nachtschicht. Ob sie ihn bitte wecken könnte? „Ralf, komm mal, da sind zwei Männer von der Polizei, die wollen irgendwas von dir.“ Ein neues Spielchen seiner Exfrau, denkt Witte verschlafen. Seitdem sie in eine Sekte geraten ist, macht sie Theater. Aber die Kriminalbeamten wollen was anderes: „Kennen Sie eine Jennifer?“ Witte nickt. „Unser Kindermädchen.“ Der Beamte sagt: „Die war gestern bei uns auf der Wache. Sie hat Sie angezeigt, wegen Vergewaltigung.“ […] Der ganze Text im Heft 9 von ZEIT Verbrechen oder hier.

Liebe, Stift, Papier

Als Dreizehnjähriger schrieb unser Autor Gabriel Proedl einen Brief an ein Mädchen, Dora. Eine Antwort erhielt er nie. Jetzt, fast zehn Jahre später, will er wissen, warum. Und warum ihn das Briefeschreiben bis heute nicht losgelassen hat. Er kontaktiert alle seine bisherigen Briefpartner, und am Ende auch Dora. Erschienen in ZEIT Christ&Welt, 27.1.2021 Ich muss dreizehn gewesen sein, als mein Lehrer in der Französischstunde fragte, wer von uns regelmäßig Briefe schreibe. Keiner meldete sich. Und wer würde gerne Briefe bekommen? Dora, eine Mitschülerin, streckte ihren Rücken beim Aufzeigen durch, um die Hände der anderen zu überragen. Ich war seit Wochen in Dora verliebt. Sie war gut in der Schule, ohne ständig zu lernen, war sportlich, blitzgescheit, beliebt und dennoch reserviert; sie war keine, die allen um den Hals fiel. Ich versuchte immer wieder, mit ihr zu plaudern, umarmte sie, wann immer es ging – und schrieb ihr kurz nach der Französischstunde meinen ersten Brief. Eine Antwort bekam ich nie.  Aus uns wurde nichts, doch die Liebe zum Briefeschreiben ist gewachsen. Jetzt bin ich zweiundzwanzig und schreibe immer noch, an Freunde und Bekannte – meist bekomme ich eine Antwort. Ich mag diesen niedergeschriebenen Gedankenaustausch, das Warten auf die Erwiderung, das Tagebuchschreiben mit Dialogpartner. Früher kannte ich kaum jemanden, der Briefe schrieb, doch jetzt, während der Pandemie, ändert sich das: Auf Twitter posten Jugendliche, dass sie ihren Großeltern schreiben, statt sie zu besuchen, kirchliche Einrichtungen veranstalten Briefschreibaktionen für Schulklassen an Altersheime, und mehrere Eltern erzählen mir, dass ihre Kinder schreiben, um mit Schulfreunden in Kontakt zu bleiben. Alle schreiben sie jetzt. Ich fühle mich wie der Fan einer Indie-Band, die gerade ihren Durchbruch hat.  Ich bin mit dem Internet aufgewachsen, fand es unheimlich, aber auch faszinierend. Als Kind ging ich über den Computer ins Netz, googelte „Yeti“ weil ich nicht glauben wollte, dass es die Gestalt wirklich gab, und tatsächlich: ich fand Bilder.  Dann, der Aufstieg des iPhones – das Internet war plötzlich immer dabei. SchülerVZ, Facebook, Instagram. Der Whatsapp-Messenger, chatten in Gruppen, oberflächliche Nachrichten, „wie geht’s, was machst?“ und oberflächliche Antworten, „eh gut, nix, du?“  Mit dem Briefeschreiben wollte ich dem entgegenhalten. Auf echtem Papier, mit echten Stiften schreiben, Entwürfe machen, bis jedes Wort seine Berechtigung hat. Dann dreimal falten, rein in den Umschlag, Briefmarke drauf und zum Briefkasten gehen.  […] Link zum ganzen Artikel bei ZEIT Christ & Welt.

Kann euch doch egal sein

Ein 16-Jähriger sticht die Freundin nieder und kommt in die Psychiatrie. Nach zehn Jahren kommt er raus und bleibt alleine mit seinen Dämonen. Erschienen in DIE ZEIT, Dezember 2020 / Illustration: Karlotta Freier Celina will Markus ein Kuscheltier kaufen, seit zwei Wochen ist sie wieder seine Freundin. Er hat ihr geschworen, sie nicht mehr zu boxen. Sie ist seine große Liebe. Darum war er schon mal mit ihr verlobt, aber dann hat sie den Ring weggeworfen, und jetzt darf Markus sie eigentlich gar nicht mehr sehen. Celinas Eltern haben es verboten und das Gericht auch. Einstweilige Verfügung. Er schlendert mit ihr durchs Oder-Center, am New Yorker vorbei, an der schwarzen Spitzenunterwäsche von Hunkemöller. Die Kaufhausmusik säuselt schön ins Ohr. Lauter kleine Weihnachtsbäume stehen herum. 2. Dezember 2009. Markus trägt seine neue Jacke mit dem Fellkragen offen. Celina nölt ein bisschen wegen seiner großen Pupillen. Vorhin hat sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf verpasst. Aber das ist egal. Die Amphetamine wärmen von innen und machen schön ruhig, sie wirken genau andersrum als bei anderen Menschen, das liegt wohl an seinem ADHS. Irgendwann stehen sie im Nanu-Nana, wo er sich das Kuscheltier aussuchen soll. Er hat keinen Bock darauf. Er ist sechzehn. Sie hält ihm Teddybären vor die Nase. Irgendwas beginnt in ihm zu kribbeln. Er will hier weg. Er boxt Celina gegen die Schulter. Gleich fängt sie wieder an rumzuheulen. Die Verkäuferin erklärt, dass Männer keine Kuscheltiere mögen. Da hat sie recht. Die Verkäuferin sagt, Celina solle ihm lieber was anderes kaufen, und das findet er auch. Vor der Ladentür umarmt sie ihn plötzlich, will ihn offenbar beruhigen. Aber sie schreckt gleich wieder zurück. „Was ist denn ditte“, fragt sie und zeigt auf seine rechte Jackentasche. Sie weiß genau, was das ist. Es ist das Küchenmesser, er trägt es immer bei sich. Das muss so sein. Er ist jetzt Schuldeneintreiber der Halbwelt. Für eine Ohrfeige bekommt er 100 Euro oder 150. In Schwedt wissen die anderen Jungs längst, wer sich mit dem Markus anlegt, hat ein Problem. Du musst kränker sein als die anderen, dann haben sie Respekt. Darum das Messer. Aber Celina macht Aufstand. […] Der ganze Text in der gedruckten Ausgabe der ZEIT vom 23. Dezmeber oder hier.

Als ob es kein Morgen gäbe

Feiern ja, aber in kontrolliertem Rahmen: Berliner Clubs erproben neue Konzepte, um auch in der kalten Jahreszeit Besucher empfangen zu können. Das reicht von Veranstaltungen in Zelten bis hin zu Kunst-Performances statt Party. Der Berliner Senat unterstützt diese Pläne Erschienen im Oktober 2020 im Deutschlandfunk Mikrokosmos/ Foto: Marc Hunter

Das Gehen und das Von-uns-Gehen

Der Schriftsteller Julian Schutting hat einen letzten Wunsch: ein Tod im Spazieren. Er geht deshalb ständig umher, um die Chancen zu erhöhen. Wenn es sein muss, will er nachhelfen. Erschienen im Falter, August 2020 / Fotos: Katharina Gossow Julian Schutting sagt, er habe Ordnung gemacht. Er habe seine Bettdecke über das Geländer des französischen Balkons geschlagen und das Fenster geöffnet, seine Wollpullover im Einbaukasten verstaut und die Manuskripte am Parkettboden der winzigen Altbauwohnung sortiert – Stapel für Stapel, mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davonweht. „Als würden Sie gleich bei mir eintreten“, sagt er mir. Ich rufe nur an. Den Schriftsteller treffen kann ich erst nach der „Pestzeit“, wie er die Corona-Pandemie nennt. Auch wegen ihr denkt er jetzt mehr an „die letzten Fragen im Leben“, sagt er: Wie verlässt man diese Welt? Oder wie entfernt man sich aus ihr? Mit zweiundachtzig denke man darüber nach. Wenn ihn die Kraft verlässt, will er mit Schlafmittel nachhelfen. All das erzählt er mir, noch bevor ich richtig fragen kann, wie es ihm geht. […] Der ganze Text in der gedruckten Ausgabe des Falter vom 26. August oder hier.

Was heißt hier ‚autistisch‘?

Autisten – Nerds mit Superfähigkeiten, empathielose Eigenbrötler: So weit das Klischee. Unser Autor Manuel Stark ist Autist. Er würde da gern etwas klarstellen… Erschienen in DIE ZEIT, 06.08.2020 Sie kennen bestimmt dieses Gefühl, keinen Zugang zu finden zu einem Menschen oder einer Gruppe, egal wie sehr man sich bemüht. Dann tut sich eine Kluft auf, zwischen einem selbst und den anderen. Ein Asperger-Autist fühlt sich immer so, jeden Tag. Sehe ich dagegen im Fernsehen Sendungen zum Thema Autismus, begegnen mir Menschen mit Superfähigkeiten, die das Wetter des kompletten vergangenen Jahres herunterbeten können oder komplizierteste Exponentialgleichungen lösen, während sie am Alltag scheitern. Im Spiegel lese ich, der ehemalige Wirecard-Chef habe sich „abwechselnd esoterisch und autistisch“ gegeben. Von „introvertierten autistisch verkünstelten Stararchitekten“ ist in der Süddeutschen die Rede. Und im Focus wird Facebook-Gründer Mark Zuckerberg als „gnadenlos stur, sozial schwierig, fast autistisch“ beschrieben. Das Wort „autistisch“, es wird oft benutzt und selten verstanden. Ich bin Autist. Superkräfte besitze ich keine. Mein Mathe-Abi habe ich gerade so bestanden, Nähe zu Menschen ist mir wichtig, und an das Wetter erinnere ich mich nur, wenn es in Hamburg mal wieder eine Woche durchregnet. Kein Wunder, extreme Inselbegabungen wie ein Über-Gedächtnis sind Teil des sogenannten Savant-Syndroms – gerade einmal die Hälfte der nur etwa hundert bekannten Savants ist autistisch. Autisten hingegen gibt es gar nicht so wenige. Studien gehen davon aus, dass sich unter hundert Menschen ein bis zwei aus dem autistischen Spektrum befinden. In Deutschland wären das etwa eine Million Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert Asperger im ICD-10 unter F84.5 als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Auf dem Bildschirm meines Laptops erscheinen Begriffe wie Mutation oder Defekt, ich muss mich bei jedem Link und jeder Studie mehr überwinden. Die schreiben über Menschen wie mich: Krank. Gestört. Fehlerhaft. Als Kind hatte ich mich oft so gefühlt… […] Gesamter Text in DIE ZEIT oder online auf zeit.de

Was alte Leute zu erzählen haben. Und wovon Kinder träumen.

Hundertjährige haben viel zu erzählen. Und Kinder haben viele Träume. Unser Autor Gabriel Proedl hat für die Titelgeschichte des Magazins CHRISMON mit drei Hundertjährigen aus Hamburg, Leipzig und Berlin gesprochen. Erschienen in Chrismon, Juni 2020 / Fotos: Magdalena Stengel Charlotte Oberberg, Berlin In meiner Rente gründete ich eine Kabarettgruppe. Wir traten in Pflegeheimen und Pfarrsälen auf und hatten viel Spaß gemeinsam. Die Stücke schrieb ich selbst, es war ein Blick in die Zukunft, eine Utopie: Ich schrieb von führerlosen Bussen und davon, dass die Postämter geschlossen würden. Beides war damals unvorstellbar – ich schrieb es, um mich zu amüsieren. Es war ein Hirngespinst! Jetzt ist vieles davon Wirklichkeit geworden. Eine Viruskrise wie die Corona-Zeit hatte ich aber nicht vorhergesehen. Wir machten schließlich Kabarett, nicht griechisches Drama. Ich bin im Jahr 1923 im Bezirk Kreuzberg in ­Berlin geboren und lebe bis heute hier. Von der Dach- terrasse meiner Wohnung in der siebten Etage kann ich die leere Charlottenstraße sehen. Die Menschen gehen wegen des Virus nicht mehr raus. Ein ausgestorbenes Berlin-Kreuzberg habe ich noch nie erlebt, nicht einmal zu Kriegszeiten. Hier im Viertel tut sich immer was – jetzt steht es still. Das macht mich ­nervös, denn immer wenn es Missstände gibt, will ich helfen: In den 1970er Jahren habe ich einen ­Syrer unterstützt, er bedankte sich am Ende mit einem ­Blumenstrauß bei mir und sagte, er verehre mich wie seine Mutter. Ich bin auch politisch engagiert und war stellvertretende Bezirksverordnetenvorsteherin. Jetzt kann ich nicht helfen, ich sitze zu Hause, löse Rätsel oder lese. Ich kann für mich selbst sorgen, dafür bin ich dankbar. Ich habe immer danach gelebt, ein hohes Alter erreichen zu können. Jeden Tag habe ich meine acht Stunden geschlafen und auch sonst auf mich geachtet. Es macht so viel Freude, am Leben zu sein, warum sollte ich es nicht ausreizen? Die Vergangenheit ist mir nichts wert, ich lebe in der Gegenwart und schaue in die Zukunft. Vielleicht ist es mir deshalb immer so gutgegangen? Weil ich lieber nach vorne schaue, als zurückzuschauen und zu jammern? Während meine Freunde im Alter prüde und bieder geworden sind, will ich noch Schick in meinem Leben haben. Oft bekomme ich Komplimente im Fahrstuhl oder auf der Straße. Mit meinem Stil und meiner Art wollte ich nach dem Tod meines Mannes vor fünfzehn Jahren ­einen weiteren Partner finden. Ich war erst 82 und ­brauchte jemanden zum Knuddeln und Verreisen! Leider fand ich niemanden. Ich sage, was ich denke, und das passt nicht jedem Mann. Und bevor ich dann irgendjemanden in der Wohnung sitzen habe, bin ich lieber alleine – ich komme gut mit mir selbst aus. […] Alle Protokolle im Chrismon-Heft (Juni 2020) oder online hier.

Corona Roadtrip

Alexander und Lotta kommen zusammen – dann kommt Corona. Die beiden beschließen abzuhauen und reisen mit einem VW-Bus quer durch Deutschland. Dabei lernen sie ein Land im Ausnahmezustand kennen. Erschienen in stern.de, 27.4.2020 / Foto: Enno Kapitza Ein Donnerstag Mitte März 2020 und wir sitzen im Eldorado. Zweiter Wodka-Soda. Zweites Astra. Die Gespräche der Gäste kreisen um die Corona-Pandemie. Wir können das Wort „Ausgangssperre“ nicht überhören. Bislang nur eine Empfehlung, klar, kommt uns aber schon jetzt ziemlich ungelegen. Wir wollten „es“ nämlich „versuchen“. Das hatten sie und ich vor drei Tagen beschlossen. Im Saal II, einer anderen Bar. Mit „Es“ ist eine echte Beziehung gemeint und mit „versuchen“ eine solche zu führen. Sie heißt Lotta. Sie hat rotes Haar. Ich steh total auf ihre Haare! Ich mag auch, wie sie lacht. Bis ich Lotta kennenlernte, war ich überzeugt, wer zu oft laut lacht, meint es mit seiner Freude nicht ernst. Aber Lotta lacht viel und laut und es klingt immer ehrlich. Dass wir „es“ früher oder später „versuchen“ wollen, wussten wir eigentlich seit unserer ersten Begegnung vor drei Wochen – auch im Eldorado. Nachdem wir uns eine halbe Stunde unterhalten hatten, bat sie mich, einmal aufzustehen. Sie müsse wissen, wie groß ich sei. Sie musterte mich. „Nein, das passt gut“, sagte sie. Ich glaube, sie schätzte damals ab, ob sie mich bequem küssen könne, wenn sie sich auf Zehenspitzen stellt. Ich nehme einen Schluck vom Wodka-Soda, ich sage, eigentlich sollten wir uns nicht länger treffen. Wäre besser für uns. Nicht in der Öffentlichkeit. Laut Internet sind zu diesem Zeitpunkt in Deutschland knapp 8000 Menschen an Covid-19 erkrankt und 12 gestorben. Lotta nickt. Ich glaube, sie nickt vor allem das Wort „eigentlich“ ab. Wie soll das funktionieren, eine Drei-Tage-Beziehung ohne Sicht-und-sonst-wie-Kontakt? Ich sage: „Oder wir hauen ab! Raus aus der Großstadt. Auf dem Land da wäre man sicherer. Da muss man im Radius von hundert Metern niemanden sehen.“ Lotta führt die Astra-Flasche an den Mund. Sie sieht an mir vorbei. Vielleicht versteht sie nicht, was ich sagen will. „Lass uns weg von hier. So schnell wie möglich. Einfach davon.“ Sie lacht auf. Jaja, großartig. Und wo wollen wir schlafen? „Im Bus! Wir mieten uns einen Bus, einen Camper, oder wie die Dinger heißen, und den stellen wir auf Wiesen und Felder.“ Lotta schaut immer noch etwas skeptisch. Auch für meinen Job sei das super, sage ich. Ich schreibe ein Porträt über Deutschland in Zeiten der Corona-Krise. Keine Corona-Pressekonferenzen mehr, keine Live-Ticker, sondern echtes Leben, das muss schließlich auch irgendwie weitergehen. Was machen die Menschen aus Angst vor der unsichtbaren Bedrohung? Was nicht? Da strahlt Lotta endlich und nimmt meine Hand. „Ja!“, ruft sie und lacht. „Ja, das machen wir!“ Dann küsst sie mich. […] Gesamter Text online auf stern.de

Ich habe die Männer zur Rede gestellt, die mich geghostet haben

„Irgendwie habe ich vergessen zu antworten, weil es mir einfach nicht so wichtig war.“ Erschienen in Vice, April 2020 Ich habe den ganzen Tag am See verbracht und sitze in der S-Bahn nach Hause. Mein Handy liegt seit Stunden ganz unten in meiner Tasche. Es ist Juni und der morgige Sonnenbrand glüht heiß auf meinen Schenkeln. Ich fische mein Handy aus der Tasche. Ein paar Whatsapp-Mitteilungen begrüßen mich. Darunter auch die eines Typen, der mich in einem Café angesprochen hatte: „Hey, wie geht’s? Was machst du heute Abend? Würde dich gerne sehen.“ „Sorry, war nicht am Handy. Digital Detox ist doch gerade super trendy. Aber wir können gerne nächste Woche mal was machen?“, antworte ich und höre seitdem: Nichts. Auch nicht am nächsten Tag. Irgendwie ist man dann ja immer überrascht. Obwohl ich nicht die Person war, die vorgeschlagen hat, Lines von einem Benjamin von Stuckrad-Barre Buch zu ziehen, bin ich die, die geghostet wird. Ob es sich bei einem beendeten Nachrichtenaustausch schon um Ghosting handelt, definiert jeder für sich selbst. Für mich ist es dann Ghosting, wenn ich auf eine explizite Frage, mit welcher ich ein potentielles, nächstes Treffen anspreche, keine Antwort bekomme. Edition F beschreibt es als Schlussmachen, ohne Schluss zu machen: Eine Person bricht plötzlich den Kontakt mit jemandem ab, ohne Erklärung. Statt ihm nochmal zu schreiben, klammere ich mich an mein letztes Fünkchen Stolz. Dabei will ich ihm erzählen, dass ich mit sieben das letzte Mal ein Batik-Oberteil getragen habe. Oder dass ich nie Lowrise-Jeans hatte. Schließlich ist es doch eine Leistung, den wiederauftretenden Modesünden zu widerstehen. Na Lukas, findest du das nicht bewundernswert? Irgendwie bin ich einfach schon ein ziemlicher Fang. Dennoch schreibe ich nichts. Eine Woche lang male ich mir aus, wie er irgendwann auf Instagram ein Video postet, in dem er und seine zukünftige Freundin, untermalt von einem Rihanna-Remix, Händchen haltend Longboard fahren. Ich bin erleichtert, dass ich nicht mit seiner schwitzigen Hand in meiner in den Sonnenuntergang rollen muss. […] Der ganze Text hier.

Wo die Geschichten stranden

Die marokkanische Hafenstadt Tanger galt einst als Sehnsuchtsort amerikanischer Dandys. Heute kämpfen Einheimische für die Eigenständigkeit ihrer Kunst – und gegen den Widerstand des konservativen Islam Von Benedikt Herber, CICERO, 01.04.2020 Es gibt diesen Tanger-Mythos: Du bist eigentlich nur auf der Durchreise, aber irgendetwas hält dich fest – und ehe du dich versiehst, kaufst du dir ein Haus, beobachtest für den Rest deines Lebens mit einem frisch gepressten Orangensaft in der Hand, wie sich die Wellen vor der Kasbah brechen. Tanger ist wie ein Magnet, wer ihm zu nahe kommt, kann sich ihm nicht entziehen. Ein schwarzes Loch, das dich verschluckt. Wenn Tanger also die Stadt der Gelegenheitsabenteurer ist, dann gehört Mohammed Mrabet eigentlich gar nicht hier her. Denn Mrabet, der Maler und Geschichtenerzähler, wollte nie woanders sein.  An der Straße von Gibraltar wirkt es fast so, als würden sich Europa und Afrika die Finger reichen. Rund zehn Seemeilen sind es von Spanien übers Mittelmeer bis nach Tanger, der Millionenstadt im Norden Marokkos. Mit der Fähre vom andalusischen Tarifa aus braucht man für die Strecke etwas mehr als eine Stunde. Schon wenn sich das Schiff der afrikanischen Küste nähert, zeigt sich Tanger mit seinem gesamten Charme: Die weißen Altstadthäuschen reihen sich manierlich wie Bausteine aufeinander, vom Hafen bis hoch zur historischen Festung, der Kasbah. Vom ersten Moment an ist der Reisende erfüllt durch diese Tanger-spezifische Leichtigkeit. Am Stadtstrand traben Kamele und Pferde durch den Sand, der Geruch von Kümmel, Safran und frischem Obst liegt in der Luft, und auf den Dachterrassen tanzt die Wäsche im warmen Wind des Mittelmeers.  Es fällt nicht schwer nachzuvollziehen, welche Faszination Tanger auf die vielen großen Schriftsteller hatte, die sich im 20.Jahrhundert in den hektischen Gassen der Medina, der traditionellen muslimischen Altstadt, einnisteten: William S. Burroughs, Paul und Jane Bowles, Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Truman Capote, Tennessee Williams. Allesamt Outsider des amerikanischen Literaturbetriebs, Querköpfe, Dandys.  Burroughs, der in Tanger viele Jahre verbrachte, sprach in seinem drogenhalluzinierenden „Naked Lunch“ von der „Interzone“, einem Niemandsland zwischen den Welten. Er suchte hier, was er weder in Europa noch Amerika finden konnte. Denn das Tanger seiner Zeit verband die Schönheit des Orientalischen mit einer historisch einzigartigen Freizügigkeit, mit Drogen und (häufig homosexuellem) Sex. Burroughs und die anderen fanden all das an dem Ort, der so leichtfüßig alle Erwartungen brach, wie Okzident und Orient doch bitte zu sein haben.  Tanger ist ein Kind des Spätkolonialismus. Als strategisches Tor nach Nordafrika war die Stadt hoch attraktiv: für die Spanier und die Franzosen, die den Rest Marokkos unter sich aufteilten. Auch für Deutschland, das 1905 eine diplomatische Krise auslöste, als Wilhelm II. die Stadt besuchte. 1923 machten acht Mächte die Stadt und ihr Umland zur internationalen Zone, in der de facto Anarchie herrschte. Sie existierte bis 1956. Tanger entzog sich der Regierung Marokkos, wurde zum Rückzugsort für die Anarchisten des Spanischen Bürgerkriegs, zum Paradies für Spione, für Schmuggler. Und für jeden, der sich ein Leben außerhalb bürgerlicher Regelsysteme wünschte. Es florierten Schwulenbordelle, Drogen gab es an jeder Straßenecke zu kaufen.  Heute stellen sich andere Fragen: Kann ein Tanger der radikalen Freiheit dem vorpreschenden muslimischen Konservatismus trotzen? Und wie frei kann sich dieser marokkanische Kulturbetrieb von seinen westlichen Vorbildern machen? 1931 besuchte ein junger Amerikaner namens Paul Bowles das erste Mal Tanger. Fast zwei Jahrzehnte später sollte er mit seiner Ehefrau Jane wiederkommen und bleiben. Bowles schrieb in Tanger „Sheltering Sky“, „Himmel über der Wüste“. Ein existenzialistischer Roman über drei Amerikaner unterwegs in der Sahara, 1949 erstmals erschienen. „Wir sind keine Touristen, wir sind Reisende. Ein Tourist ist jemand, der vom Moment der Ankunft über das Nachhausekommen nachdenkt“, heißt es am Anfang des Buches. Bowles fand in Tanger sein neues Zuhause.  „Sheltering Sky“ trug dazu bei, dass Tanger zum Sehnsuchtsort einer kulturellen Avantgarde wurde. Projektionen eines wilden, romantischen Orients verbanden sich hier mit den Freiräumen für einen anarchistischen Hedonismus. Dabei war diese Avantgarde eine westliche, sie blieb meist unter sich. Das Interesse des dauerberauschten Burroughs für die Menschen vor Ort galt vor allem minderjährigen Lustknaben. Die gelebte Freiheit im Orient hatte einen kolonialistischen Beigeschmack.   „Sheltering Sky“ hat das Leben der Schweizer Autorin Amsél Muheim verändert. Die Wohnung der dunkelhaarigen Dame mit markantem Züricher Akzent und dem Hang zu grellen Kleidungselementen liegt im vierten Stock eines herrlichen Altbaus, in einer Nebenstraße beim Place de France. Draußen riecht es nach Bratfett und Autoabgasen. Motoren, Straßenhändler und Kleinkinder kreischen um die Wette. Drinnen: einladendes, weitläufiges Wohnzimmer, verwinkelte Gänge, an der Wand hängt Kunst von Mohammed Drissi, einer Art marokkanischem Ernst Ludwig Kirchner. Der Balkon gibt den Blick auf den glitzernden Teppich des Mittelmeers frei, wie auf einem impressionistischen Gemälde verläuft das Blau des Meeres an seinen Rändern mit dem grauen Küstenstreifen Spaniens.  Die erste Berührung mit „Sheltering Sky“ hatte Amsél dank Bernardo Bertolucci. Der hatte Bowles’ Roman 1990 verfilmt, Debra Winger und John Malkovich spielten das Ehepaar Kit und Port Moresby. Eine Offenbarung: „Ich war überwältigt“, sagt sie. „Es ging um Freiheit – um die Frage, wie frei ein Mensch sein kann. Frei von alten Mustern, von seinem kulturellen Hintergrund.“ Und dann diese Bilder: die Weiten der Wüste, die engen Gassen der Medina – „atemberaubend“. Amsél, die junge Studentin mit drei kleinen Kindern, hatte einen Entschluss gefasst: Sie müsse nach Tanger. Als sie das erste Mal in der nordafrikanischen Stadt ankam, habe sie sich wie Paul Bowles in seiner Autobiografie „Without Stopping“ gefühlt: Sie habe geahnt, dass hier Probleme gelöst würden, von deren Existenz sie bisher noch nicht einmal wusste. Was Tanger ausmache? „Schwer zu sagen“, sagt Amsél. „Es ist, wie wenn du dich verliebst. Warum ausgerechnet in diese Person? Vielleicht ist es das Orientalische, vielleicht der Mix der Kulturen. Und die geografische Lage als Brücke zwischen Okzident und Orient.“  Wie sieht es der heute 84-jährige Mohammed Mrabet? Der Maler erzählt langsam und in seinem Tanjawi-Dialekt von seiner Kindheit, es klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht: Jeden Tag hätten er und seine 24 Geschwister frischen Fisch aus dem Mittelmeer gegessen. „Wir aßen wie die Löwen“, sagt Mrabet. Er kenne keinen besseren Ort als das Tanger

Mein Mentor macht Schluss

Ohne meinen alten Grundschullehrer wäre mein Leben anders verlaufen. Im größten Gebrüll lehrte Heinrich Zweyer den Respekt vor den Stillen. Was macht so ein Lehrer ohne seine Kinder? Ein Besuch am letzten Arbeitstag. Erschienen in DIE ZEIT, 09.01.2020 Es gibt Lehrer, die begeistern sich für ihr Fach, nicht für Kinder. Andere stellen Regeln auf und ahnden Verstöße mit Nachsitzen oder Strafarbeit. Herr Zweyer war anders. Er nahm Ideen ernst, dachte über Einwände nach. Er glaubte nie, es als Erwachsener sowieso besser zu wissen. 2013 fragte das Allensbach-Institut 536 Lehrer, wie viel Einfluss auf ihre Schüler sie zu haben glauben. Fast die Hälfte gab an: wenig oder keinen. Meine Erfahrung widerspricht ihrem Selbsturteil: In der dritten Klasse beobachtete ich immer wieder, wie ältere Schüler aus dem Gymnasium und der Realschule unsere Klasse besuchten. Sie nahmen meinen Lehrer in den Arm, nach dem Unterricht redeten sie mit ihm über Schule und Noten, Streit mit den Eltern und erste Probleme in der Liebe. Ich war eines dieser Kinder, die so lange »Warum?« fragten, bis das Gegenüber aufgab. Zweyer hat selten aufgegeben. Als ich in der vierten Klasse wissen wollte, woher Wasser kommt und wieso es nicht weniger wird, obwohl es so viele trinken, sprang er vom Mathe- Unterricht in die Heimat- und Sachkunde, ließ die Arbeitshefte wechseln und malte Skizzen an die Tafel. Den Kreislauf des Regens. Ähnliche Bilder sah ich das nächste Mal in der sechsten Klasse – Erdkunde-Unterricht. Der Inhalt ähnelte sich, nur die Wörter waren komplizierter. John Hattie, einer der einflussreichsten Bildungsforscher, sagt: Der Lehrer bestimmt, was Schüler lernen. Andere Einflüsse sind zweitrangig bis irrelevant. Ein Lehrer müsse den Einzelnen wahrnehmen und rasch entscheiden, wann er streng reagiert und wann mit Humor. In Hatties Thesen erkenne ich den Lehrer meiner Kindheit, der mit Liedern einsprang, wenn wir Schüler überfordert waren von Englisch oder Mathe, und der nur laut wurde, wenn man auch nach der dritten Ermahnung noch quatschte. Er sprach schnell und sprang zu Metaphern, wenn es half. Heinrich Zweyer war ein Gedankentänzer. Heute stolpern seine Sätze manchmal… […] Gesamter Text in DIE ZEIT oder online auf zeit.de

Liebesgeschichte eines Vergewaltigers

Er wollte sie in ihrer Ehe vor allem immer dominieren. Als sie ihn betrog und dann verließ, drehte er durch – und vergewaltigte sie. Protokoll eines Männlichkeitswahns. Erschienen in DIE ZEIT, 21.02.2020 Damals, als er die Tat plante, an einem Frühlingstag, habe er zuerst weiße Kabelbinder und schwarzes Klebeband auf den Couchtisch gelegt. Sei danach ins Schlafzimmer gegangen und habe eine Webcam an seinen Laptop gesteckt und sie so ausgerichtet, dass das Bett im Bild war. Dann habe er noch eine Digitalkamera bereitgelegt, um sie, wehrlos daliegend, zu fotografieren. Nur eines habe er da im Sinn gehabt – ihr wehzutun. In seinem Kopf immer wieder derselbe Gedanke: „Was kann ich ihr antun, um meinen Schmerz loszuwerden und sie diesen Schmerz fühlen zu lassen? Ich kann keine Frau schlagen. Klar. Konnte ich nie. Aber demütigen. Das muss sein. Sie muss spüren, was ich gespürt habe …“ Er habe sein Handy genommen und getippt: „Wir müssen reden. Kannst du morgen Abend kommen? Unser Sohn hat mir da was erzählt.“ Ihre Antwort habe bald aufgeblinkt. Sie wolle vorbeischauen. Es war der 4. März 2010. Neun Jahre nach der Tat sitzt Paul (Name geändert) auf einer hellgrauen Stoffcouch in seinem Wohnzimmer in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein – und erzählt seine Geschichte. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, um dem Wahn dieses gewalttätigen Mannes zuzuhören. In Deutschland versucht durchschnittlich jeden Tag ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Laut Zahlen des Bundeskriminalamtes starben dabei im Jahr 2018 122 Frauen, dazu kommen Tausende Fälle von Vergewaltigung, Körperverletzung, Stalking und sexueller Nötigung. Angezeigt wurden 2018 fast 140.000 Fälle von Gewalt in der Partnerschaft. Der Mann, dem ich gegenüber sitze, ist kein Einzelfall. Rückblick, Juli 1999 auf Sylt: Es gibt sie, die Liebe auf den ersten Blick! Paul begegnete ihr in jenem Sommer. Miriam (Name geändert) kam mit ihrem Lover, ein paar Freunden und Pauls Bruder auf die Insel. Paul wohnte in Westerland. […] Gesamter Text auf zeit.de Die Illustration stammt von Alexandra Rügler

Das schlechte Gewissen reist mit – oder nicht?

Die Klimabilanz ist meistens miserabel. Doch sportliche Abenteuer in der Ferne bleiben verlockend. Über Schuldgefühle beim Freizeitsport in Afrika. (Veröffentlicht in: Deutschlandfunk Kultur, Nachspiel) Ausschnitt: Wenn ich zumindest sagen könnte, ich habe das Paradies gefunden. Habe ich aber nicht. Ich habe mich oft verletzt und das hat weh getan. Aber es ist eben ein weit verbreiteter Irrtum, dass das, was man liebt, einem immer Spaß machen muss. Ich liebe das Windsurfen, aber wir führen eine Fernbeziehung, denn ich wohne nicht am Meer. Deshalb fahre ich viele Kilometer mit dem Auto oder fliege. Dieses Jahr war ich drei Wochen in Marokko, in Moulay. Das ist ein kleines Dorf an der Atlantikküste. Und zu meiner Verteidigung kann ich sagen: Es ist ein sehr armes Dorf. Ohne die Windsurfer, die kommen, gäbe es dort nichts. Die Menschen holen ihr Wasser noch aus Brunnen, die meisten Kinder besuchen nur ein paar Jahre die Schule, dann verkaufen sie von ihren Müttern gestrickte Mützen und selbst gemachtes Gebäck an ausgekühlte und hungrige Windsurfer. […] Link: https://www.deutschlandfunkkultur.de/surfen-in-marokko-das-schlechte-gewissen-reist-mit-oder.966.de.html?dram:article_id=458850

Das Armenien der Seele

Zwei Männer mit demselben Vornamen: David. Sie nennen das gleiche Land ihre Heimat, Armenien. Und sie teilen einen Traum: die Besteigung des Ararat, des „heiligen Berges“. Seit 1921 beansprucht die Türkei das Gebirge für sich, der Ararat ist für die armenische Seite abgeriegelt. Er hat sich aber tief eingeschrieben in die armenische Seele – und verbindet auch David und David. Was sie trennt: der eine hat den Berg bestiegen, der andere will nicht sterben, ehe er es nicht getan hat. Ein Gespräch zwischen zwei Männern über die Sehnsucht, einmal ganz oben zu stehen. (Veröffentlicht in: DIE ZEIT) Ausschnitt: Meine Eltern kommen beide aus Westarmenien. Sie sind vor dem Genozid geflohen und mussten ihr eigenes Land verlassen. Ich muss als ihr Sohn für sie den Berg zurückholen. Das bin ich ihnen schuldig. Sie haben mir das Leben geschenkt, ich werde ihnen den Berg schenken. Was mich viel eher beschäftigt: Dieses Land liegt in der Hand unserer Kinder. Es soll ein Land werden, aus dem man nicht mehr ausreisen will, weil es so schön ist. Und weil es den Menschen so gut geht. Mich beschäftigt, dass Armenien seit dreißig Jahren ein eigenständiges Land ist, aber es einen großen Sozialabbau gab. Jetzt findet gerade ein Umbruch statt, ich habe sehr große Hoffnung. Auch, wenn du und ich wahrscheinlich nicht mehr richtig Teil dieser Veränderung sein werden. Hast du nie überlegt, auszuwandern? Ich bekomme sehr viele Angebote aus dem Ausland, will aber hierbleiben. Ich liebe das Land, ich liebe die Menschen. Ich will, dass meine Kinder und Kindeskinder hier aufwachsen können. Ich reise auch sehr gerne und sehr viel, aber das Schönste am Reisen ist für mich das Nachhausekommen. Ich bin noch nie verreist. Aber meine erste Reise soll der Gipfel sein. […] Link: https://www.zeit.de/2019/38/ararat-berg-vulkan-armenien-tuerkei

Meine Oma ist eine ganz normale Rentnerin. Warum geht sie putzen?

Helga Hofmann (75) bezieht eine Rente in Höhe des deutschen Durchschnitts. „Heute schmerzt das Geld schon, wenn ich ein Glas Wein bestelle“, sagt sie. Und reinigt die Wohnung einer anderen Frau, um ihre Teilhabe am sozialen Leben nicht vollkommen zu verlieren. (Veröffentlich in: DIE ZEIT) Textausschnitt: Sie ist 75 Jahre alt und für mich der Inbegriff von Eleganz: Jeden Morgen nach dem Aufstehen dreht sie sich kleine Wellen in ihre blond gefärbten Haare und schminkt sich, immer dunkel, um ihre Augen zu betonen, die schon lange von Blau zu einem hellen Grau verblasst sind. Sie trägt ihren Schmuck in Gold, als Kette um den Hals oder als Reif ums Handgelenk. Wenn sie spricht, zeigt sie Bildung, ans Französische angelehnte Fremdwörter drängen so häufig in ihre Erzählungen, dass ich mir als Kind angewöhnt habe, vor allem auf den Kontext des Gesagten zu achten. Heute trägt sie blaue Jeans und einen schwarzen Pullover, beides ist ihr zu weit und wirft Falten, ihren Schmuck hat sie zu Hause gelassen. Nur geschminkt ist sie auch jetzt. »Ein bisschen strahlen möchte ich schon«, flüstert sie mir zu. Es ist Mittwoch, zehn Uhr, und wie jeden Mittwoch, Punkt zehn, klingelt Helga Hofmann an der Tür des Mehrfamilienhauses in einer Seitenstraße des oberfränkischen Städtchens Bad Staffelstein. Wie jedes der Häuser hier besitzt auch dieses einen kleinen Garten, wintergrüne Pflanzen, eigene Parkplätze – Dorfidylle, die mit den Grundstückspreisen einer Bäderstadt bezahlt werden will. Es knackt in der Sprechanlage, die Tür summt. Erster Stock links. Uns öffnet eine kleine Frau mit lichtem weißem Haar, sie geht leicht gebückt. »Pünktlich wie immer«, sagt sie und lächelt. Oma wendet sich zum Bad und greift nach zwei pinken Gummihandschuhen, die sie aus einem dunkelblauen Plastikeimer zieht. […] Link: https://www.zeit.de/2018/20/rente-putzen-job-geld-altersarmut

Geteiltes Leid

Ein Ehepaar verliert sein einziges Kind durch einen Motorradunfall. Die Mutter will das Motorrad loswerden, um das Unglück verarbeiten zu können. Der Vater will es reparieren – aus dem gleichen Grund. (Veröffentlicht in: Süddeutsche Zeitung Magazin) Textausschnitt: 2. AUGUST 2015 Die Großmutter hätte aufs Motorrad spucken sollen. Doch genau wegen dieser Angewohnheit wollte Sven sie nicht mit seiner Maschine besuchen, die Großmutter hatte schon auf sein erstes Auto gespuckt, um allzeit gute Fahrt zu wünschen. Svens Eltern, Jörg und Elfi Drenkard, fahren also ohne ihn. Erzählen der Großmutter, dass Jörg und Sven gemeinsam den Motorradführerschein gemacht haben. »Mach dir keine Sorgen«, sagt Jörg Drenkard am Kaffeetisch zu seiner Mutter. »Sven ist vorsichtig. Der bleibt lieber zehn Stundenkilometer unter als über dem erlaubten Limit. Da passiert nichts.« Zu Hause macht Sven sich für eine Tour mit dem Motorrad bereit. Ein Freund begegnet Sven eine Stunde später zufällig an einer Straßenbiegung kurz vor der Ortschaft Würgau in der fränkischen Schweiz, zwanzig Kilometer östlich von Bamberg. Sven steht am Straßenrand, seine weiße Kawasaki liegt neben ihm im Gras. Er ist gestürzt. Der Freund will wissen, ob etwas passiert sei. Nein, sagt Sven. Er wirkt wütend. Es sei besser, mit dem Weiterfahren etwas zu warten, rät der Freund. Erst mal runterkommen und warten, ob alles okay sei. Stattdessen greift Sven nach seinem Helm. Abschiedsgruß. Dann fahren beide in entgegengesetzte Richtungen weiter. Warum Sven stürzte, bleibt unklar. Vielleicht ist er einem Tier ausgewichen oder zu scharf abgebogen und mit dem Vorderrad weggerutscht. Fest steht, dass Sven nur wenige Minuten weiterfährt, bergab durch das Dorf Würgau, etwa einen Kilometer entfernt, bevor er erneut stürzt. Als Svens Eltern von der Großmutter zurück nach Hause kommen, rennt die Nachbarin auf sie zu. Die Polizei war da. Worum es geht? Weiß sie nicht. Im Haus klingelt das Telefon. Es ist Nadine, Svens beste Freundin. Sie hat auf dem Onlineportal der Regionalzeitung von einem Unfall gelesen. Der 21 Jahre alte Fahrer eines Motorrads, Marke Kawasaki, beschleunigte kurz nach dem Ortsschild Würgau auf der B22. Die zwanzig Jahre alte Fahrerin eines VW vor ihm bog scharf nach links ab. Das Motorrad prallte gegen das Heck des Autos. »Wo ist der Sven?«, ist Nadines erste Frage. »Der Sven ist mit dem Motorrad unterwegs «, antwortet der Vater. »Wo unterwegs?« »Am Würgauer Berg.« »Es tut mir leid, es tut mir so leid!« Nach dem Telefonat geht Jörg Drenkard in die Küche, dann ins Arbeitszimmer. Zieht seine Hose aus und wieder an, ohne zu wissen, wieso. Er setzt sich auf die kleine Holzbank vor dem Haus. Warten. Ein Polizeiwagen stoppt am Straßenrand, zwei Polizisten und ein Sozialhelfer steigen aus. »Sagt mir nicht, dass er tot ist«, sagt der Vater. »Doch.« Elfi Drenkard sitzt trotz der Nachricht bis 21 Uhr auf der Couch und wartet, um 21 Uhr wollte ihr Sohn zu Hause sein. Er war doch immer pünktlich. […] Link: https://www.sueddeutsche.de/leben/eine-familie-trauert-um-den-sohn-geteiltes-leid-1.3796876?reduced=true

Die letzten Minuten

Manche sehen einen dunklen Tunnel mit Licht am Ende, andere berichten, wie sie sich von ihrem Körper gelöst hatten und diesen von oben sahen. Nahtod-Erfahrungen können Hinweise geben, wie sich die letzten Momente anfühlen werden. Aber auch über das Sterben an sich ist bereits einiges bekannt. (Veröffentlicht in: Deutschlandfunk, Forschung aktuell) Ausschnitt: Aber nicht nur das subjektive Erleben von Nahtod-Erfahrungen ähnelt sich. Eine Studie, bei der sterbende Menschen beobachtet wurden, die auf Grund eines Schädel-Hirntraumas noch Elektroden im Kopf hatten, zeigte, dass das Sterben mit einer charakteristischen Gehirnwelle einhergeht. „Genau in dem Augenblick, in dem die Gehirnfunktion erlischt oder wenige Sekunden, bis ein, zwei Minuten danach. Wenn dieser Zustand einmal eingetreten ist, dann liegt tatsächlich ein irreversibler Zustand vor.“ Der Mensch ist dann tatsächlich hirntot. Die letzten Gehirnwellen ähneln dabei stets den Ausschlägen bei einem Migräneanfall.  […] Link: https://www.deutschlandfunk.de/letzte-momente-nahtod-erfahrungen-haben-nicht-nur-mit-dem.676.de.html?dram:article_id=463519

Kinderwunsch auf Eis

Immer mehr Frauen in Deutschland lassen ihre Eizellen einfrieren. Manche wollen ihre Fruchtbarkeit verlängern, bis sie den richtigen Partner für die Familiengründung gefunden haben. Andere tun es, bevor sie durch eine Krebsbehandlung unfruchtbar werden. Doch wirft diese Möglichkeit viele grundsätzliche Fragen auf. (Veröffentlicht in: Deutschlandfunk, Hintergrund) Ausschnitt: Die Diagnose Darmkrebs bekam Claudia Neumann, da war sie gerade 28 Jahre alt. Die Krankheit veränderte ihr Leben: Operationen, Chemotherapie, Strahlenbehandlung. Narben und künstlicher Darmausgang, Haarausfall, Übelkeit. Eine weitere Nebenwirkung der Krebs-Behandlung: Sie wird keine Kinder mehr bekommen können. „Das ist jetzt so ein richtig einschneidendes Erlebnis in meinem Leben, dass mir diese Entscheidung einfach genommen wurde, dass ich nicht selbst entscheiden kann, möchte ich Kinder oder möchte ich sie nicht.“ Heute ist Claudia Neumann 31 Jahre alt. Vom Krebs hat sie sich erholt. Zirka 9.000 Frauen und 6.000 Männer zwischen 18 und 39 Jahren erkranken in Deutschland jedes Jahr an Krebs. Die Prognose der jungen Erwachsenen mit Krebs ist grundsätzlich gut, 80 Prozent dieser Erkrankungen können heutzutage geheilt werden. Doch die Behandlungen wie Chemo- oder Strahlentherapie können wie bei Claudia Neumann zu Unfruchtbarkeit führen. […] Link: https://www.deutschlandfunk.de/eizellen-einfrieren-kinderwunsch-auf-eis.724.de.html?dram:article_id=443510

Ein Milliliter mehr Leben

Fridolin und Jonathan sind viel zu früh geboren. Auf der Intensivstation kämpfen sie sich in diese Welt – gespendete Muttermilch gibt ihnen die Chance, zu überleben. Eine Wissenschaftsreportage. (Veröffentlicht in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) Ausschnitt: Wolfram Kaiser ist wieder im Perinatalzentrum der Universitätsklinik Freiburg angekommen. Er kennt sich dort aus, verbringt jeden Tag mehrere Stunden auf der Station. Er kennt die Kabel und Computer, die Inkubatoren mit der Aufschrift „Geminus I“ und „Geminus II“, darin seine Zwillinge: Fridolin, der kleinere, links und Jonathan, der größere, rechts. In drei Monaten sollten sie auf die Welt kommen, seit drei Wochen sind sie da. Die beiden haben die Augen geschlossen: Im Mutterleib schwimmt man mit blindem Vertrauen. Mutter Petra Kaiser ist nach der Geburt erkrankt und kann ihre beiden Söhne nur selten sehen. Vater Wolfram ist deshalb oft bei ihnen, hält durch die Öffnungen des Inkubators ihre winzigen Hände, bürstet ihre Haare, salbt die Lippen, umhegt sie. Eine Stunde am Tag darf er sie auf seine Brust legen. „Känguruhen“ nennen das die Pflegerinnen, weil die Kinder dabei so körpernah geborgen sind wie im Beutel eines Kängurus. Eine Stunde am Tag, in der auch die Zwillinge einander wieder nahe sind. Für Wolfram Kaiser die schönste Zeit des Tages, wenn sie seine Liebe spüren, Sauerstoff durch zwei Röhrchen bekommen, Antibiotika über die Vene – und Muttermilch über einen Schlauch durch die Nase in den Magen. Muttermilch, weil es für ein Frühgeborenes nichts Besseres gibt, sagen Ärzte, Pfleger und Hebammen. Nur in wenigen medizinischen Fragen gibt es solche Einigkeit. […] Link: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/frauenmilchbanken-gespendete-muttermilch-hilft-fruehgeborenen-16338601.html Veröffentlich in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung