Ausschreibung: Journalismus-Mentoring 2025/26

Hermes Baby möchte dich durch ein Mentoring-Jahr in deinen Visionen und Projekten unterstützen. Wenn du die Welt erforschen willst, indem du wahre Geschichten recherchierst und erzählst, laden wir dich ein: Werde ein Jahr lang Teil unserer Gemeinschaft. Wir helfen dir, deine Stimme als Autorin oder Autor zu finden. Und wir ermöglichen dir einen sicheren und kreativen Raum, in dem du dich als Erzähljournalistin oder Erzähljournalist entwickelst. Ausbildungen im Journalismus vermitteln häufig die immergleichen Schreibregeln. Diese sind für den Einstieg in den Beruf hilfreich, nutzen sich aber allzu schnell ab. Und sie haben ein Problem: Weil diese Regeln zu oft wie Gesetze verkündet werden, überlagern sie die Persönlichkeit des Schreibenden. Am Ende von Journalismusschule oder Volontariat lesen sich zu viele Texte nach Bausatz, sie folgen den immergleichen Mustern. Das macht sie eintönig und erwartbar. Jede gute Geschichte birgt das Versprechen, uns selbst im Anderen wiederzufinden. Um dieses Versprechen zu erfüllen, recherchieren Erzähljournalistinnen und Erzähljournalisten in zwei Richtungen: nach außen hin, die Fakten. Und nach innen, in sich selbst hinein, was die Fakten bedeuten. Nur so entstehen wahre Geschichten, die Informationen vermitteln und außerdem Sinn entfalten. Wir sind überzeugt, dass ein Erzähltext nur dann gelingt, wenn Autorinnen und Autoren aus ihrer Persönlichkeit heraus schreiben. Ausdrücklich ermuntern möchten wir Quereinsteigerinnen und Fachfremde, Überlebenskünstlerinnen und Sinnsucher – Leute, die sich begeistern für Menschen und für das Leben, das sie führen. Eine gute Geschichte lässt uns erfahren, wie Menschen mit den Missständen des Lebens, mit Ungerechtigkeit und Leid umgehen – aber auch mit Glück und Liebe. Die Gute Geschichte fragt nach dem Wie und Warum zwischen dem Wer und Was. Guter Erzähljournalismus bleibt dem Menschen zugewandt. Wir bieten dir: ● Du erhältst ein Stipendium an der Reporter Akademie in Berlin: In mehreren Kursen lernst du, wie du das Kunsthandwerk des Erzählens in unterschiedlichen journalistischen Ressorts und Formaten erfolgreich anwendest. ● Du bist willkommen bei den wöchentlichen Textkritiken und Kreativrunden. Sowohl bei den internen Treffen, als auch bei denen mit Gästen aus Theater, Musik, Literatur, Journalismus und anderen Bereichen des erzählerischen Wirkens. ● Über das Jahr hinweg werden dich verschiedene Mitglieder unserer Gemeinschaft als Mentor oder Mentorin begleiten. So ermöglichen sie dir einen Perspektivwechsel auf gelungenen Erzähljournalismus. ● Bis zu sechs erzähljournalistische Geschichten, die du während des Jahres erarbeitest, werden intensiv von mindestens einem Mitglied der Gemeinschaft begleitet und betreut. ● Wir unterstützen dich bei der Ausarbeitung und dem anschließenden Verkauf von Geschichten mit überregionaler Relevanz an renommierte Medienhäuser. Bei einer Bewerbung erwarten wir: ● Zeit für freiberufliches Arbeiten. Dabei ist es uns egal, ob du gerade eine Berufsausbildung abgeschlossen hast, dein letzter Abschluss das Abitur war, du im Xten Semester eines beliebigen Studiums steckst, aus einem komplett anderen Beruf in den Journalismus starten möchtest, schon den Sprung auf eine Journalistenschule gemacht hast oder mitten im Berufsleben steckst.(Einzige Ausnahme: Eine feste berufliche Anstellung mit mehr als 50 Prozent zeitlicher Auslastung gilt für uns als Ausschlusskriterium.) ● Bitte schicke uns einen tabellarischen Lebenslauf und eine Textprobe. Veröffentlicht oder unveröffentlicht, beides ist möglich. Bitte füge diese(s) Dokument(e) deiner Bewerbung in Form einer PDF-Datei an. ● Falls Du noch keine Arbeitserfahrung hast oder keine Arbeitsprobe hast, mit der du dich wohl fühlst: Kein Problem! Ein Lebenslauf ist seinem Wesen nach eine Geschichte über eine Etappe unseres Lebens. Statt eines tabellarischen Lebenslaufs, erzähl uns etwas über dich. Und mache deutlich, warum wahre Erzählungen dir wichtig sind. Schicke uns diesen Text gern als PDF. (max. 8.000 Zeichen; inkl. Leerzeichen) _______________________________________________________________________________________ Bitte schicke deine Bewerbung mit dem Betreff “Bewerbung Mentoring Vorname Nachname” an mentoring@hermes-baby.de. Bewerbungsschluss ist der 14.07.2025, Mitternacht/ 0:00 Uhr (GMT+1). Feedback zur Bewerbung erhältst du bis spätestens 25.07.2025. Das Mentoring beginnt ab dem 06.08.2025 oder nach individueller Absprache zeitnah und begleitet dich voraussichtlich bis zum 31.07.2026. Um die Qualität des Programms, die Intensität der Betreuung und die finanzielle Sicherheit der mit dem Programm verbundenen Fortbildungsstipendien zu gewährleisten, vergeben wir leider nicht mehr als zwei Plätze. Wir freuen uns sehr darauf, von dir zu lesen und wünschen viel Erfolg! Deine Hermes Babys

Ausschreibung: Hermes Baby-Mentoring 2023/24

Wir finden es wichtig, junge Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen. Und wir sind davon überzeugt, dass ein gelungener Erzähljournalismus gesellschaftliche Zusammenhänge besonders begreifbar macht, und so eine humanistisch geprägte Demokratie stärkt. Deshalb bieten wir angehenden Erzähljournalistinnen und Erzähljournalisten die Möglichkeit, ein Jahr lang auf die Ressourcen und Möglichkeiten von Hermes Baby zurückzugreifen. Wir laden dich ein, Teil des kreativen Wirbels zu werden, der unsere Gemeinschaft ausmacht. In Form eines Mentoring-Jahres möchten wir dich in deinen Visionen und Projekten unterstützen. Und dir Zugang zu einem Raum ermöglichen, in dem du dich weiterentwickelst und lernst, noch besser zu schreiben. Wir sind überzeugt: Jede gute Geschichte birgt das Versprechen, uns selbst im Anderen wiederzufinden. Sie lässt uns erfahren, wie Menschen mit den Missständen des Lebens, mit Ungerechtigkeit und Leid umgehen – aber auch mit Glück und Liebe. Die Gute Geschichte fragt nach dem Wie und dem Warum zwischen dem Wer und Was. Guter Erzähljournalismus bleibt dem Menschen zugewandt. Wenn du dich dieser Überzeugung anschließen kannst und lernen möchtest, die Welt durch das Recherchieren und Erzählen wahrer Geschichten noch gründlicher zu erforschen, dann bietet dir das Hermes Baby-Mentoring eine einzigartige Möglichkeit. Wir als Gemeinschaft helfen dir, deine Persönlichkeit als Autorin oder Autor weiterzuentwickeln und dich als Erzähljournalistin oder Erzähljournalist erfolgreich zu entfalten. Um dieses Versprechen zu erfüllen, bieten wir dir: ● Du erhältst ein Stipendium für mehrere Fortbildungen an der Reporter Akademie in Berlin: In Kursen wie „Meisterklasse Erzähljournalismus“ oder „Erzählender Investigativjournalismus“ lernst du von Meisterinnen und Meistern ihres Fachs. ● Du bist willkommen bei den wöchentlichen Text-Kritiken und Kreativ-Runden. Sowohl bei den internen Treffen, als auch bei denen mit externen Gästen aus Theater, Musik, Literatur, Journalismus und anderen Bereichen des erzählerischen Wirkens. ● Über das Jahr hinweg werden dich verschiedene Mitglieder unserer Gemeinschaft als Mentor oder Mentorin begleiten. So ermöglichen sie dir einen Perspektivwechsel auf gelungenen Erzähljournalismus. ● Bis zu vier erzähljournalistische Geschichten, die du während des Jahres erarbeitest, werden intensiv von mindestens einem Mitglied der Gemeinschaft begleitet und betreut. ● Wir unterstützen dich bei der Ausarbeitung und dem anschließenden Verkauf von Geschichten mit überregionaler Relevanz an renommierte Medienhäuser. Für eine Bewerbung erwarten wir von dir: ● Zeit für freiberufliches Arbeiten. Dabei ist es uns egal, ob du gerade eine Berufsausbildung abgeschlossen hast, dein letzter Abschluss das Abitur war, du im Xten Semester eines beliebigen Studiums steckst, aus einem komplett anderen Beruf in den Journalismus starten möchtest, schon den Sprung auf eine Journalistenschule gemacht hast oder mitten im Berufsleben steckst.(Einzige Ausnahme: Eine feste berufliche Anstellung mit mehr als 50 Prozent zeitlicher Auslastung gilt für uns als Ausschlusskriterium.) ● Bitte schicke uns mindestens eine, maximal drei erzähljournalistische Arbeitsproben. Veröffentlicht oder unveröffentlicht, beides ist möglich. Bitte füge diese(s) Dokument(e) deiner Bewerbung in Form einer PDF-Datei an. ● Ein Lebenslauf ist seinem Wesen nach eine Geschichte über eine Etappe unseres Lebens. Also: Erzähl uns doch etwas über dich! Geh in einem Fließtext (max. 8.000 Zeichen; inkl. Leerzeichen) gerne auf deine Motivation ein: Warum möchtest du ein Jahr lang Teil von Hermes Baby sein? Und überhaupt: Was findest du am Erzählen und an Erzählungen? Schicke uns auch diesen Text als PDF. Bitte schicke deine Bewerbung mit dem Betreff “Bewerbung Mentoring Vorname Nachname” an stipendium@hermes-baby.de. Bewerbungsschluss ist der 15.03.2023, Mitternacht/ 0:00 Uhr (GMT+1). Das Mentoring beginnt ab dem 03.04.2023 und begleitet dich voraussichtlich bis zum 25.03.2024. Um die Qualität des Programms, die Intensität der Betreuung und die finanzielle Sicherheit der Stipendien zu gewährleisten, vergeben wir leider nicht mehr als zwei Plätze. Wir freuen uns sehr darauf, von dir zu lesen und wünschen viel Erfolg! Deine Hermes Babys

Ausschreibung: Hermes Baby-Stipendium 2022/23

Wir feiern den Erzähljournalismus! Jetzt schon zwei Jahre lang. Und weil eine Party nur gemeinsam Spaß macht, wollen wir unsere Erfahrungen teilen. Deshalb bieten wir jungen Erzähljournalistinnen und Erzähljournalisten die Möglichkeit, ein Jahr lang auf die Ressourcen und Möglichkeiten von Hermes Baby zurückzugreifen. Wir teilen unsere Ideen und Gedanken und laden dich ein, Teil des kreativen Wirbels zu werden, der unsere Gemeinschaft ausmacht. In Form eines Fortbildungs-Stipendiums unterstützen wir dich in deinen Visionen und Projekten und ermöglichen dir ein Jahr lang zu lernen, wie du noch besser schreibst. Wir sind überzeugt: Jede Geschichte birgt das Versprechen, uns selbst im Anderen wiederzufinden. Die gute Geschichte ist der Spiegel unserer Versuche und unseres Scheiterns, unseres Hoffens, unserer Zweifel und unserer Makel. Sie lässt uns erfahren, wie Menschen mit den Missständen des Lebens, mit Ungerechtigkeit und Leid umgehen – aber auch mit Glück und Liebe. Die gute Geschichte fragt nach dem Wie und dem Warum zwischen dem Wer und Was. Und sie bleibt dem Menschen zugewandt. Wenn du dich dieser Überzeugung anschließen kannst und lernen möchtest, die Welt durch das Recherchieren und Erzählen von Geschichten noch gründlicher zu erforschen, dann bietet dir das Hermes Baby-Stipendium eine einzigartige Möglichkeit. Wir als Gemeinschaft helfen dir, deine Persönlichkeit als Autorin oder Autor weiterzuentwickeln und dich als Erzähljournalistin oder Erzähljournalist erfolgreich zu entfalten. Um dieses Versprechen zu erfüllen, bieten wir dir: ● Du bist willkommen bei den wöchentlichen Text-Kritiken, sowohl bei den internen Runden, als auch bei denen mit externen Gästen. ● Du bist eingeladen zu den zweiwöchentlichen Kreativ-Runden, in denen wir aus groben Themenideen konkrete Geschichten entwickeln. ● Die regelmäßigen Fortbildungs- und Diskussionsrunden mit externen Experten aus Theater, Musik, Literatur, Journalismus und anderen Bereichen des erzählerischen Wirkens stehen dir offen. ● Wir unterstützen dich bei der Entwicklung und dem anschließenden Verkauf von Geschichten von überregionaler Relevanz an renommierte Medienhäuser. ● Über das Jahr hinweg werden dich sechs verschiedene Mitglieder unserer Gemeinschaft als Mentor oder Mentorin begleiten, so ermöglichen sie dir einen Perspektivwechsel auf gelungenen Erzähljournalismus. ● Bis zu vier erzähljournalistische Geschichten, die du während des Jahres erarbeitest, werden intensiv von mindestens einem Mitglied der Gemeinschaft begleitet und betreut. Für eine Bewerbung erwarten wir von dir: ● Zeit für freiberufliches Arbeiten. Dabei ist es uns egal, ob du gerade eine Berufsausbildung abgeschlossen hast, frisch das Abitur geschafft hast, im Xten Semester eines beliebigen Studiums steckst, gerade den Sprung auf eine Journalistenschule gemacht hast oder schon mitten im Berufsleben als Freie oder Freier steckst. (Eine feste berufliche Anstellung mit mehr als 50 Prozent zeitlicher Auslastung gilt für uns als Ausschlusskriterium.) ● Bitte schicke uns mindestens eine, maximal drei erzähljournalistische Arbeitsproben. Veröffentlicht oder unveröffentlicht, beides ist möglich. Bitte füge diese(s) Dokument(e) deiner Bewerbung in Form einer PDF-Datei an. ● Wir wünschen uns von dir viel Freude und Liebe zum Erzählen als Kulturtechnik, als Form des Ausdrucks und teilweise auch als Lebenseinstellung. Was ist an Erzählen und Erzählungen so toll? Was fasziniert dich daran? Schreib uns das doch gerne (max. 5.000 Zeichen; inkl. Leerzeichen) und füge es als PDF deiner Bewerbung an. ● Ein Lebenslauf ist immer schön. Im Wesentlichen ist er eine Geschichte über eine Etappe unseres Lebens. Also: Erzähl uns doch etwas über dich! Schicke uns auch diesen Text als PDF. Lebenslauf und Motivationsschreiben dürfen miteinander kombiniert werden. Bitte schicke deine Bewerbung mit dem Betreff “Bewerbung Stipendium Vorname Nachname” an stipendium@hermes-baby.de. Bewerbungsschluss ist der 31.12.2021, Mitternacht/0:00 Uhr. Das Stipendium beginnt ab dem 01.03.2022 und begleitet dich voraussichtlich bis zum 28.02.2023. Insgesamt werden bis zu zwei Stipendien vergeben. Wir freuen uns sehr darauf, von dir zu lesen und wünschen viel Erfolg! #GemeinsamfürdieguteGeschichte Deine Hermes Babys

Erzählen hat Methode: Rausschmeißer – Teil III: Der Schlag

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel8: Rausschmeißer – Der Schlag Wie alles Schreiben, folgen auch die Möglichkeiten einen Text zu beenden gewissen handwerklichen Regeln. Meister des Fachs können, wie überall, diese Regeln brechen – und so herausragende Ausstiege schreiben, die perfekt abgestimmt sind auf eine einzigartige Geschichte. Und doch besitzen Regeln und Kniffe ihren Wert: Setzt man sie gekonnt ein, entfalten Textausstiege ein Echo, das laut und lange klingt. Der narrative Journalismus kennt drei klassische Herangehensweisen, eine Erzählung zu beenden: 1. Die Klammer (circle kickers) 2. Der Schlag (punch kickers) 3. Das Zitat (quote kickers) Zu den Techniken von circle und quote gibt es jeweils einen eigenen Beitrag. An dieser Stelle möchte ich mich auf den punch kicker konzentrieren. Die Art von Ausstieg also, die Art von Ausstiegen also, die einen Text mit Wucht beenden und den Leser beinahe schmerzhaft treffen. Der Schlag: Es ist eine beliebte Herangehensweise, um einen Text zu beenden. Und eine, die selten wirklich gut gelingt. Der letzte Absatz läuft immer spitzer zu und schließt mit dem letzten Satz der Geschichte. Dessen Aussage soll sich wie eine Speerspitze in den Leser bohren. Weil solche Enden uns treffen, oft weh tun, immer Gefühle entfachen, verweben sie Information mit Emotion. Das transportiert die Botschaft des Textes in unser Gedächtnis. Anders, als etwa Klammer- oder das Zitat-Enden, beziehen sich letzte Absätze, die als Punch konzeptioniert sind, nicht zwingend direkt auf die vorangegangene Handlung. Der Autor selbst kann eine Frage stellen, einen winzigen essayistischen Exkurs wagen oder auch mit einem wenige Zeilen fassenden Kommentar schließen. Das ist schwierig. Kann aber gelingen, wenn der abschließende Gedanke klug, der letzte Kommentar scharf ist. Auch, eine besondere Charaktereigenschaft des Protagonisten, beispielsweise eine Art zu sprechen, noch einmal aufzugreifen und dieses Merkmal als Erzähler in einen neuen Sinn-Kontext zu stellen, kann einen Text auf großartige Weise beenden. Beispielsweise haben gleich mehrere US-Reporter die Art der Marines aufgegriffen, eindeutigen Antworten auszuweichen. Die Soldaten antworteten immer mit einem „Well yes. Well no. But…“ (‚Vielleicht ja. Vielleicht nein. Aber…‘) und erklärten in vielen Worten, dass alles eben nicht so einfach sei. Im Afghanistan-Einsatz kamen neben Soldaten viele Zivilisten ums Leben. Bei einer in ganz besonderem Ausmaß gescheiterten Operation töteten Soldaten die halbe Bevölkerung eines Dorfs – sie hielten die Siedlung fälschlicherweise für ein geheimes Terroristen-Versteck. Ein Text-Ende könnte sein: „Wäre diese Tragödie zu vermeiden gewesen? Vielleicht ja. Vielleicht nein. Aber so sieht‘s eben aus, in einem Krieg.“ Natürlich geht es aber auch klassisch: Wie bei allen Text-Enden, kann man auch die Punch-Technik als Rückbezug auf das bisherige Geschehen konzeptionieren. Dann wirkt die Geschichte wie eine gespannte Bogensehne, der letzte (Ab-)Satz feuert den vorbereiteten Pfeil ab. Beispielsweise ließe sich eine Szene auf dem Flohmarkt eines Dorfkindergartens beschreiben. Ein Text steigt mit der Szene der improvisierten Stände ein, mit Kindergelächter und bunten Luftballons. Wir erleben eine Kamerafahrt über alte Teeservice, abgenutzte Kuscheltiere und selbstgebastelte Papiersterne. Irgendwann bleibt ein Mann an einem Stand stehen. Auf der Auslage liegen neben Spielzeugen auch ein Paar Kinderschuhe. Der Mann sieht die Schuhe an. Er ist selbst gerade Vater geworden. Die Schuhe sind himmelblau, seine Lieblingsfarbe. Von der Größe könnte das auch passen, seine Tochter ist anderthalb Jahr alt und hat gerade gelernt zu laufen. Der Mann spricht die junge Frau hinter der Auslage an. „Das sind aber schöne Schuhe! Ich mag die Farbe sehr“, sagt der Mann. „Die Farbe hab ich damals für meine Tochter ausgesucht. Sie passten so gut zu Milenas Augen“, antwortet die Frau. „Nee, so überlegt ist das bei mir nicht. Sie gefallen mir einfach.“ „Muss ja auch nicht sein.“ „Wie viele sollen sie denn kosten?“ „Fünfzehn Euro.“ „Wären zehn okay?“ „Zwölf?“ „Ich habe gerade leider nur zehn Euro mit.“ „Okay, dann eben für den Zehner.“ Der Mann zieht seine Geldbörse aus der rechten Hosentasche seiner Jeans. Aus dem Fach für die Scheine zieht er die zehn Euro. Gut, dass er die Münzen immer in seiner Jackentasche verstaut, denkt er, sonst würden die gerade garantiert klimpern. Natürlich hätte er die Zwölf gehabt, auch die 15 irgendwie. Aber in dem Alter wächst ein Kind so schnell raus aus der Kleidung, da muss man doch sparen. Am Abend sitzt er am Ufer eines Flusses und fühlt sich elend. Zeh Euro. Diese verdammten Dinger. Aber wer hätte das denn ahnen können? Als er vom Flohmarkt heimgekommen war, hatte er seiner Freundin stolz seine Beute präsentiert. Zwei wunderschöne, hellblaue Schuhe für ihre Tochter. Und nur einen Zehner bezahlt! Sie hatte ihn angestarrt und sich dann einfach weggedreht. Ohne ein Wort, einfach weg zum Paprika schneiden fürs Mittagessen. Dabei hatte die blöde Kuh ihn doch seit dem Türkeiurlaub im letzten Sommer immerzu aufgezogen, er könne nicht verhandeln. Wie immer war er nach dem Essen eine kleine Runde um den Block gelaufen. Die Schuhe hatte er mitgenommen. Wieso überhaupt? Vielleicht war er einfach nur beleidigt. Auf dem Spaziergang hatte er die Nachbarin getroffen. Auch ihr hatte er die Beute gezeigt. Nein, richtig präsentiert hatte er die beiden Treter! Am Anfang hatte die Nachbarin noch gelacht. Als er dann aber die Geschichte über seine Verhandlungskünste erzählte, war da plötzlich derselbe leere Blick. Aber anders, als seine Freundin, sagte sie ihm dann auch, warum. Milena konnte gerade laufen. Merke: Punch-Kickers verweben Information mit einer besonders starken Emotion und zementieren die Botschaft eines Textes so in unserem Gedächtnis.

Erzählen hat Methode: Rausschmeißer – Teil II: Das Zitat

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel8: Rausschmeißer – Das Zitat Wie alles Schreiben, folgen auch die Möglichkeiten einen Text zu beenden gewissen handwerklichen Regeln. Meister des Fachs können, wie überall, diese Regeln brechen – und so herausragende Ausstiege schreiben, die perfekt abgestimmt sind auf eine einzigartige Geschichte. Und doch besitzen Regeln und Kniffe ihren Wert: Setzt man sie gekonnt ein, entfalten Textausstiege ein Echo, das laut und lange klingt. Der narrative Journalismus kennt drei klassische Herangehensweisen, eine Erzählung zu beenden: 1. Die Klammer (circle kickers) 2. Der Schlag (punch kickers) 3. Das Zitat (quote kickers) Zu den Techniken von circle und punch gibt es jeweils einen eigenen Beitrag. An dieser Stelle möchte ich mich auf den quote kicker konzentrieren. Die Art von Ausstieg also, der einen Text mit einem Zitat beendet – und so das letzte Wort (scheinbar) dem Protagonisten überlässt. Das Zitat: Es ist eine eher selten gewählte Technik, um einen Text zu beenden. Manche Ausbildungsredakteure empfehlen: Der letzte Satz gehört dem Autoren, niemals überlassen wir ihn dem Protagonisten. Der Hinweis ist sicher gut gemeint. Einen Text mit einem Zitat zu beenden birgt tatsächlich die Gefahr von Faulheit. Es mag daher durchaus sein, dass man auf diese Methode ausweicht, weil auf die Schnelle nichts besseres einfällt. Ist gedankliche Trägheit der Grund für einen Quote-Kicker, ist das fatal. Ein Zitat sollte – wie jedes Textende – mit gutem Grund gewählt sein, als Ergebnis eines beharrlichen Abtastens, welche Art von Ausstieg die Geschichte am besten beendet. Gelingt das, entfaltet die Methode einen machtvollen Impuls, der sich im Leser festsetzt. Wählt man die Zitat-Methode, entlarvt der Zitierte im letzten Moment der Erzählung noch etwas über sich selbst. Das regt zum Nachdenken an. Und so begleitet die Geschichte uns – weit über das letzte Zeichen hinaus. Genau wie das Klammer-Ende, spielt die Zitat-Methode mit vorangegangene Szenen, Geschehnisse oder Gedanken. Wir als Leser haben, zumindest bei einer gelungenen Geschichte, eine Reise hinter uns gebracht. Ein Protagonist erklomm Höhen und fiel, stand wieder auf und kämpfte weiter. Die handelnde Person hat ein Abenteuer erlebt. Und wir Leser waren dabei. Mit jeder Entscheidung, jedem Gedanken und jeder Handlung haben wir ein klein wenig mehr über den Menschen erfahren, der die Erzählung trägt. Am Ende haben wir im besten Fall eine Charakterskizze vor Augen. Wir glauben, zumindest grob, den Protagonisten zu kennen. Zitat-Ausstiege fokussieren auf genau diese Wirkung einer Geschichte. Die bereits entstandene Charakterskizze wirkt wie ein Anlauf. Der Zitat-Ausstieg ist der finale Sprung aus dem Text. War der Anlauf gut und der Absprung präzise, kommt man sehr weit. Dieser Absprung kann verschiedene Wirkungen erfüllen. Ein Zitat-Ende kann… 1) …die Charakterskizze akzentuieren. Folgt man diesem Sinn, vervollständigt das Zitat im besten Fall unseren Eindruck des Protagonisten. Es ist das finale Puzzlestück, durch das wir das schlüssige Charakterbild endlich vor uns sehen. 2) …die Charakterskizze bestätigen. Wählt man diesen Zweck, unterstreicht das abschließende Zitat noch einmal das entwickelte Personenbild. Ein solches Ende will entweder sichergehen, dass das Ende beim Leser klar ankommt. Durch das Zitat nickt gewissermaßen der Protagonist selbst noch einmal und sagt zwischen den Zeilen: Ja, du hast den Text verstanden und deutest meine Entwicklung richtig. 3) …die Charakterskizze brechen. Dieser Abschluss ist so gefährlich wie mächtig. Das Risiko zu scheitern ist groß, beim Gelingen sind Wirkung auf und Nachklang im Leser riesig. Über zig Zeilen einer Erzählung hinweg haben wir eine Person kennengelernt. ‚Wie tickt dieser Mensch?‘ Wir besitzen eine recht genaue Vorstellung von der Antwort. Das Zitat-Ende stellt diese Antwort – im besten Fall radikal – in Frage. Merke: Zitat-Ausstiege fokussieren auf die Charakterskizze, die eine Erzählung skizziert. Die Entwicklung der Geschichte wirkt wie ein Anlauf, das Zitat ist der finale Sprung aus dem Text. War der Anlauf gut und der Absprung Präzise, kommt man sehr weit.

Erzählen hat Methode: Rausschmeißer – Teil I: Die Klammer

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel8: Rausschmeißer – Die Klammer Wie alles Schreiben, folgen auch die Möglichkeiten einen Text zu beenden gewissen handwerklichen Regeln. Meister des Fachs können, wie überall, diese Regeln brechen – und so herausragende Ausstiege schreiben, die perfekt abgestimmt sind auf eine einzigartige Geschichte. Und doch besitzen Regeln und Kniffe ihren Wert: Setzt man sie gekonnt ein, entfalten Textausstiege ein Echo, das laut und lange klingt. Der narrative Journalismus kennt drei klassische Herangehensweisen, eine Erzählung zu beenden: 1. Die Klammer (circle kickers) 2. Der Schlag (punch kickers) 3. Das Zitat (quote kickers) Zu den Techniken von punch und quote werde ich jeweils einen eigenen Beitrag verfassen. An dieser Stelle möchte ich mich auf den circle kicker konzentrieren, die Art von Ausstieg also, der einen Text wie eine Klammer zusammenhält. Die Klammer: Es ist die vielleicht am häufigsten gewählte Technik junger Autorinnen und Autoren: die Klammer. Und das völlig zu Recht! Die Methode zählt zu den mächtigsten Möglichkeiten, eine Geschichte zu beenden. Wählt man die Klammer-Methode, beziehen sich Einstieg und Ausstieg eines Textes aufeinander. Setzt man sie richtig ein, wird der Leser schon beim Einstieg auf eine Spur geschubst, auf die er sich am Ende noch einmal rückblickend beziehen kann. Dadurch, dass uns das Klammer-Ende vorangegangene Szenen, Geschehnisse oder Gedanken aus dem Klammer-Anfang noch einmal ins Gedächtnis ruft, wird deutlich, was sich dazwischen verändert hat. Klammer-Ausstiege fokussieren auf den Kontrast zwischen Beginn und Ende einer Geschichte. Sie setzen die Entwicklung zwischen diesen beiden Punkten unters Brennglas. Und verankern so die Botschaft einer Erzählung in unserer Erinnerung. Besonders wirken solche Ausstiege in Texten, in denen ein Kreislauf aufgezeigt werden soll. Beispielsweise über das Werden und Vergehen in der Natur, überlässt man ein überfahrenes Reh dem Wirken des Waldes: Auszug Klammer-Einstieg: „[…] Grelles Licht, etwa 80 Kilometer pro Stunde, da springt ein Schemen aus der Nacht, vielleicht hallt ein Hupen über die Straße und verfängt sich am Waldrand in Zweigen. Irgendwo im Wald nehmen Wurzeln Nährstoffe auf, wo der Rehkörper liegen blieb, düngen besonders viel Phosphor, Magnesium, Kalium den Boden. […]“ Auszug Klammer-Ausstieg: „[…] Ein paar Meter weiter saugen Wurzeln nach dem Dünger, vielleicht hilft die Energie einem Sprössling beim Wachsen: Erst schiebt sich ein Blatt aus der Erde, dann ein Stiel, irgendwann gedeiht ein Bäumchen. Zarte Triebe werden gerne gefressen von Rehen. […]“ – Quelle: Manuel Stark in Science Notes; Ausgabe: ‚Wildnis‘, April 2021 Gekonnt eingesetzt, kann diese Technik zu mehr verhelfen, als einem klingenden Ausstieg. Eine Klammer kann einer geeigneten Erzählung eine eigene Meta-Ebene hinzufügen: Von Geschichten erwarten wir Entwicklung, eine Veränderung die sich auf der Handlungsebene und damit in uns als Leser vollzieht. Am Ende muss irgendetwas also anders sein, als am Anfang. Oder? Das Leben ist nicht so stringent. Oft sind Menschen gefangen in struktureller Benachteiligung oder persönlicher Angst. Die Protagonisten einer Geschichte erleben und durchleben zwar Geschehnisse, sie entwickeln sich dadurch sicher auch. Aber sie entkommen den Fesseln nicht, die sie an eine Sache, eine Gewohnheit oder ein Problem binden. Die Außenwelt ist zu mächtig. Ebendiese Ausweglosigkeit, in der Menschen ihren (Lebens-) Umständen ausgeliefert sind und bleiben, kann die Klammer-Methode unterstreichen. Gekonnt beweist das die Autorin Cathrin Schmiegel in ihrem Text über eine Frau, gefangen in den strukturellen Problemen von Altersarmut: Auszug Klammer-Einstieg: „Sie hatte in ihrem Leben zwei Ehemänner verloren und ihr ganzes Vermögen, als Ingrid Millgramm, geboren 1933, in einem Supermarkt stand und eine Packung Rinderhackfleisch aufriss, 500 Gramm, reduziert. Sie nestelte einen Gefrierbeutel aus ihrem Weidekorb und schüttelte das Hackfleisch hinein, sah über ihre Schultern, nach rechts, nach links, zur Fleischtheke hinüber, zum Kühlregal. Beobachtet mich jemand? […]An der Kasse legte sie die Butter auf das Band, das erste und das zweite Paket Knäckebrot. Nur den Klumpen Fleisch ließ sie im Korb […]“ Auszug Klammer-Ausstieg: „Drei Tage vor Heiligabend wird Ingrid Millgramm freigelassen. Zwei Polizisten, eine Frau, ein Mann, fahren sie mit dem Streifenwagen zu ihrem Haus. In den nächsten Wochen wird sie erst mal abwarten, dass sich der Husten beruhigt. Dann wird sie sich um ihre Dinge kümmern. Sie wird ihre Bewährungshelferin anrufen, sie wollen versuchen, mehr Wohngeld auszuhandeln. Und dann, wenn die Nahrungsvorräte ausgegangen sind, wird Ingrid Millgramm aufstehen aus ihrem Ohrensessel, zittrig und steif, einen Kamelhaarmantel überstreifen, nach ihrem Korb greifen und mit dem wenigen Geld, das ihr noch geblieben ist, einkaufen gehen.“ – Quelle: Cathrin Schmiegel in DER SPIEGEL; 08. Juni 2018 Die Autorin schreibt „einkaufen gehen“ und doch fragt man sich als Leser: Was bedeutet das – „einkaufen“? Geht die Frau erneut stehlen? Und irgendetwas in uns flüstert: natürlich! Wie soll sie denn auch sonst über die Runden kommen, die Umstände haben sich ja nicht geändert. Für uns als Leser ist nach dem Text aber etwas passiert: Wir wissen plötzlich um diese Struktur. Durch die Geschichte von Frau Millgramm haben wir sie szenisch erlebt. Wir haben uns verändert. Das Leben der Dame hingegen verharrt scheinbar im Stillstand. Sie ist gefangen in den übermächtigen Strukturen der Altersarmut, der sie einfach nicht entkommt. Der geschickte Einsatz der Klammer-Methode injiziert uns zwei widersprüchliche Impulse: In uns treffen Veränderung und Stillstand aufeinander. Unser Wissenszugewinn will nicht zusammenpassen mit der stupiden Wiederholung, die das Leben der Frau zu nehmen scheint. Das sorgt für Irritation. Unser Hirn aber strebt nach Harmonie und will diese Verwirrung auflösen, indem es die widerstreitenden Pole – Veränderung und Stillstand – zusammenbringt. Die Folge: Die Situation von Frau Millgramm und das Thema der Altersarmut in Deutschland arbeiten in uns weiter. Merksatz: Klammer-Ausstiege fokussieren auf den Kontrast zwischen Beginn und Ende einer Geschichte, sie setzen die Entwicklung unters Brennglas.

Erzählen hat Methode: Der Kuleshov-Effekt

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel7: Der Kuleshov-Effekt – Erzählen durch Weglassen Ein einziges Bild unterscheidet liebevoll von pervers, eifersüchtig von gerecht, frech von fröhlich. Diese mehr als 100 Jahre alte Erkenntnis ist noch heute eines der wichtigsten Instrumente für das Erzählen guter Geschichten. Sie stammt vom Sowjet-Filmemacher Lev Kuleshov, um 1910, und bedeutet in ihrer simpelsten Form: Gib deinen Zuschauern, Lesern, Hörern, immer nur den Rechenweg vor, niemals das Ergebnis. Menschen lieben es, sich intelligent zu fühlen, für Erkenntnis zu arbeiten und beim rezipieren einer Geschichte zumindest ein wenig ihre eigene Kreativität anzustrengen. Das schafft Verbindung, Identifikation, Nähe – und erzeugt Sog. Immer: „2+2 =“. Niemals: „4“. Um das zu beweisen, führte Alfred Hitchcock ein Experiment durch: Er zeigte verschiedenen Publikumsgruppen das Gesicht eines alten Mannes: Der Ausdruck, neutral, verzieht sich langsam zu einem Lächeln. Das eine Mal fügte Hitchcock als zweites Bild eine Szene an: eine junge Frau spielt mit ihren zwei Kindern. Dann fragte er sein Publikum, wie es wohl um den Charakter des Mannes stehe, welche Art von Mensch sei das wohl? Ein gütiger Großvater, ein warmherziger Alter, ein liebevoller Gentleman, vielleicht ein Freund der Familie. Jedes Mal waren die Zuschreibungen positiv, schilderten einen zugewandten, vertrauenswürdigen Menschen. Das andere Mal schnitt Hitchcock als zweites Bild wieder eine junge Frau in die Sequenz: Diesmal entledigte sie sich ihres Kleides, um sich im Bikini am Strand zu sonnen. Die Reaktionen des Publikums unterschieden sich heftig. Lüstling! Perverser alter Mann! Notgeiler Spanner! Kein einziges positives Urteil, stattdessen unterstellten manche dem alten Herren gar die Bereitschaft zu einem Sexualverbrechen. Beide Male war es genau dasselbe Gesicht, genau derselbe Wandel des Ausdrucks, es war die exakt selbe Filmsequenz. Die darauf folgenden Bilder hatten nichts mit dem Mann zu tun und wurden beide Male völlig fremden Kontexten entnommen. Trotzdem waren – egal, wie oft Hitchcock sein Experiment wiederholte – die Zuschauer jedes Mal überzeugt von ihrem jeweiligen Urteil und sahen keinerlei Grund, an ihrer Einschätzung zu zweifeln. Wir deuten Eindrücke also niemals einzeln, sondern immer nur in Bezug auf ihren Kontext. Diesem Effekt zu Grunde liegt ein Phänomen der Psychologie. Unser Hirn ordnet neue Sachverhalte ein, indem es nach Lektionen aus unserem Erfahrungsschatz sucht, mit denen es das aktuelle Geschehen abgleichen kann. Diese Erfahrungen übersetzt es in ein „wenn, dann“-Muster. In der Frühzeit des Menschen waren diese Fähigkeiten und Ableitungen wichtig, um das Überleben unserer Spezies zu sichern. „Wenn Raubtier, dann lauf weg!“ Je nach Kontext verschiebt sich das Muster, nachdem unser Hirn Erfahrungen analysiert und als „passend“ für die aktuelle Situation einstuft und abruft. Für eine Erzählung bedeutet das: Nicht nur das, was ich erzähle, ist Teil meiner Geschichte. Genauso wichtig ist das, was ich nicht erzähle. Jedes Weglassen verändert, genauso wie jedes Hinzufügen, den Kontext einer Schilderung. Das eröffnet eine neue Ebene des Erzählens: Die des Lesers, Hörers oder Zuschauers als Selbst-Erzähler. Durch Weglassen öffne ich Räume, die mein Leser mit eigener Erfahrung flutet. Das schafft Identifikation durch Wiedererkennen des eigenen Selbst in jeder noch so fremden Handlung, Situation der Figur. Nichts stärkt deutlicher den Sog einer fesselnden Geschichte. Zu oft berücksichtigen Autoren den Kuleshov-Effekt nicht. Dann doppeln sich die von ihnen genutzten Bilder, Sätze oder Schilderungen nur mit den Gedanken und Erkenntnissen, die mein Leser ohnehin durch eigene Erfahrung und Erwartung in seinem Kopf erschafft. Solche Dopplungen zerstören Spannung, schwächen Geschichten, erzeugen Langeweile und Erwartbarkeit. Erzähle ich stattdessen nur das Notwendige und vertraue dem Leser, die Zusammenhänge selbst herzustellen, mute ich ihm eigene Leistung zu – er arbeitet mit, für sein Erleben. Beispiel; jeder kennt es aus Horror-Filmen, Thrillern oder Krimis: Bild 1: Zoom auf die Waffe. Bild 2: Ein Mensch ist gerade unaufmerksam, etwa weil er duscht. Bild 3: Polizei zieht den Leichensack zu. Weder muss man den Weg des Mörders in das Haus zeigen, noch die Begegnung von Opfer und Täter, noch die gewaltsame Auseinandersetzung und den Mord. Das alles findet – mal mehr, mal weniger blass – als logische Konsequenz in unseren Köpfen statt. Man weiß, was passiert ist. Das spart Sendezeit und lädt den Zuschauer zum Mitarbeiten ein, über das wie des Tathergangs zu rätseln. Würde ein Filmemacher stattdessen jeden einzelnen Schritt zeigen, käme er vermutlich alleine für diese Szene auf etwa 20 Minuten Sendezeit – statt auf die üblichen 2-3, die eine solche Szene in einem Film einnimmt. Im Erzähljournalismus zeigen sich Verstöße gegen den Kuleshov-Effekt oft dann, wenn Autoren zeigen wollen, wie schlau, intellektuell oder gebildet sie sind. Dann verwechseln sie „Einordnung“ mit Eitelkeit. Natürlich ist auch mir das schon passiert. Ich schrieb im Rahmen meiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule über ein Ehepaar, das seinen letzten gemeinsamen Urlaub am Starnberger See verbringt. Sie ist Herzkrank, er hat aggressiven Krebs. Das sah dann so aus: Sie sitzen nebeneinander auf der Bank am Ufer, er sucht ihren Blick aber sie sieht ihn nicht an. Der Starnberger See ohne ihren Alfons? Wenn ein Mensch stirbt, mit dem man mehr als 60 Jahre zusammen war, was bleibt dann noch? Was bleibt von einem selbst übrig? Man definiert sich ja doch auch immer über das Umfeld. Mit dem vertrauten Menschen stirbt ja nicht nur der Geliebte, es stirbt auch der eigene Platz in der Welt. Gestattet mir hier bitte Ehrlichkeit: Das ist von Eitelkeit getriebene Pathos-Scheiße. Die Sätze sprechen das Offensichtliche aus, statt eine Szene zu erzählen. Sie stellen den Tiefsinn des Autoren auf die Bühne, statt darauf zu vertrauen, dass Leser ebendiese Fragen und Empfindungen durch eine gelungene Erzählung in sich selbst spüren – ohne, dass ich als Autor sie ihnen vorkaue. Der Text spart an der Rechnung (2+2), um das Ergebnis laut herauszubrüllen (= 4!!!!!). Ich vertraute der Geschichte nicht, wollte stattdessen mit Schläue und Sprache prahlen. Besser wäre gewesen: Es ist Mittag, bei über 30 Grad brennt die Seeoberfläche in Weiß. Alfons und Henriette haben sich

Was heißt hier ‚autistisch‘?

Autisten – Nerds mit Superfähigkeiten, empathielose Eigenbrötler: So weit das Klischee. Unser Autor Manuel Stark ist Autist. Er würde da gern etwas klarstellen… Erschienen in DIE ZEIT, 06.08.2020 Sie kennen bestimmt dieses Gefühl, keinen Zugang zu finden zu einem Menschen oder einer Gruppe, egal wie sehr man sich bemüht. Dann tut sich eine Kluft auf, zwischen einem selbst und den anderen. Ein Asperger-Autist fühlt sich immer so, jeden Tag. Sehe ich dagegen im Fernsehen Sendungen zum Thema Autismus, begegnen mir Menschen mit Superfähigkeiten, die das Wetter des kompletten vergangenen Jahres herunterbeten können oder komplizierteste Exponentialgleichungen lösen, während sie am Alltag scheitern. Im Spiegel lese ich, der ehemalige Wirecard-Chef habe sich „abwechselnd esoterisch und autistisch“ gegeben. Von „introvertierten autistisch verkünstelten Stararchitekten“ ist in der Süddeutschen die Rede. Und im Focus wird Facebook-Gründer Mark Zuckerberg als „gnadenlos stur, sozial schwierig, fast autistisch“ beschrieben. Das Wort „autistisch“, es wird oft benutzt und selten verstanden. Ich bin Autist. Superkräfte besitze ich keine. Mein Mathe-Abi habe ich gerade so bestanden, Nähe zu Menschen ist mir wichtig, und an das Wetter erinnere ich mich nur, wenn es in Hamburg mal wieder eine Woche durchregnet. Kein Wunder, extreme Inselbegabungen wie ein Über-Gedächtnis sind Teil des sogenannten Savant-Syndroms – gerade einmal die Hälfte der nur etwa hundert bekannten Savants ist autistisch. Autisten hingegen gibt es gar nicht so wenige. Studien gehen davon aus, dass sich unter hundert Menschen ein bis zwei aus dem autistischen Spektrum befinden. In Deutschland wären das etwa eine Million Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert Asperger im ICD-10 unter F84.5 als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Auf dem Bildschirm meines Laptops erscheinen Begriffe wie Mutation oder Defekt, ich muss mich bei jedem Link und jeder Studie mehr überwinden. Die schreiben über Menschen wie mich: Krank. Gestört. Fehlerhaft. Als Kind hatte ich mich oft so gefühlt… […] Gesamter Text in DIE ZEIT oder online auf zeit.de

Erzählen hat Methode: Vermeide Adjektive, nutze Bilder

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel6: Meide Adjektive, erzähle durch Bilder Adjektive sind schlimm, unbrauchbar, schrecklich, furchtbar und überhaupt sollten wir sie aus der Sprache verbannen. Sie verführen zu Faulheit und zerstören die Bilder einer Erzählung. Setzt man stattdessen auf Verben, entfalten Schilderungen eine Kraft, die jede Geschichte vorantreibt. So radikal? Immer? Natürlich nicht. Adjektive können als eine Art Skizze eine Erzählung beschleunigen, Sätze eher bereichern, als Kraft und Klang zu rauben. Aber: Sie zu verwenden fordert immer Vorsicht. Jedes Adjektiv birgt die Gefahr, einen Text zu verwässern. Als Dozent unterrichte ich zu Storytelling, Dramaturgie und die Macht von Sprache regelmäßig an Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen. Dort habe ich inzwischen mehrere Dutzend Male dasselbe Experiment durchgeführt. Ich fordere meine Studentinnen und Studenten dazu auf, stichpunktartig auf einem Zettel zu notieren, was für sie ein „schönes Haus“ ausmacht. Danach lasse ich sie ihre Stichpunkte nacheinander vorlesen. Die einen stellen sich eine Holzhütte am Berg eines norwegischen Fjords vor, umgeben von dichten Fichten- und Kiefernwäldern. Die Hütte robust im Bau, karg in der Einrichtung, mit Möbeln aus Holz und Räumen, die Platz bieten für etwa fünf Menschen. Die anderen erzählen von einem Glaspalast, transparent und offen soll sich ihr Haus zeigen, nach Innen und Außen, sodass man vom Schlafzimmer bis hinunter in den Keller sehen kann. Nur das Schlafzimmer, da sollen die Wände dimmbar sein – zu Milchglas werden, per Knopfdruck. Die nächsten schildern ein Stahl-Konstrukt, am Boden schwarzer und weißer Marmor, vielleicht als Schachbrett angeordnet. Decken, mehrere Meter hoch, Fenster durch die Licht die Räume füllend flutet. Gemälde an den Wänden, Couch und Sessel aus Leder, Zierpflanzen in den Ecken – aus Plastik, weil Natur zu viel Schmutz in das Heim trägt, während der Blüte. Die danach schildern Backsteinhäuser, Sandsteinheime, Klinkerbauten, Bauernhöfe, … Kurz: „Schön“ deutet jeder dem eigenen Empfinden nach anders. Suchen die Autorinnen und Autoren stattdessen Verben, um ihr Traumhaus zu beschreiben, entstehen Erzählungen wie diese einer Studentin am Journalistik-Seminar der Uni Mainz: Der mit Lehm verputzte Sandstein glüht orange, wenn die Sonne sich am Abend hinter den Sanddünen versteckt. Das Dach ist flach und breit genug, dass ein Dutzend Menschen ihre Liegestühle zum Sonnenbaden aufstellen könnten. Eine Tür gibt es nicht, stattdessen bricht ein rechteckiger Quader, zwei Meter hoch und etwa einen halben Meter breit, ein Loch in die Fassade. Verdeckt wird er von einem Tuch aus weißem Leinen, das bis auf den Boden fällt, wo Staub den Saum graugelb färbt… Vielleicht ist das, was sie beschreibt, kein schönes Haus für mich. Für sie aber ist es eines. Und ich als Leser kann mir – zumindest grob – vorstellen, wie es aussehen muss. Und erschaffe in meinem Kopf nicht eine Vorstellung, die meinem schönen Haus entspräche, aber weit wegführt von dem, was sie mir zeigen möchte. Wenn Autoren auf Adjektive zurückgreifen, moderieren sie oft nur noch, sie fällen Urteile über das von ihnen Erlebte. Dadurch hören sie auf zu erzählen. Sobald Worte wie „schön“, „gut“, „freudig“, „freundlich“, „niedlich“, „charmant“, „schüchtern“, in den Text drängen, hilft es, zu überlegen: Was bringt mich dazu, dieses Urteil zu fällen? Was habe ich erlebt, das diesen Eindruck in mir erzeugt hat? Und dann: besser genau das beschreiben! Ein Student der Universität Bamberg schrieb in einer Reportage über einen „schüchternen Mann“. Ich fragte ihn, wie er diesen Mann erlebt habe, dass er nun schreibe, der Herr sei schüchtern. Er erzählte davon, dass er den Mann auf seiner eigenen Geburtstagsfeier begleitet habe. Wir halfen zusammen und schrieben die Textstelle daraufhin um: Es gibt Menschen, die betreten einen Raum und nehmen ihn sofort für sich ein, ihre Gesten sind ausladend, ihre Mimik markant, ihre Worte poltern laut über andere hinweg. Dieser Mann ist anders, er schleicht mehr als dass er geht und behält seine Arme entweder um die Brust geschlungen oder an die Seiten gepresst, wenn er spricht, dann so leise, dass alle schweigen müssen, um ihn zu verstehen. Still aber werden die anderen selten. Merksatz: Meide Adjektive, suche Verben, nutze Bilder um zu erzählen, statt mit Urteilen zu moderieren.

Erzählen hat Methode: Suche nach dem richtigen Wort

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel5: Die Suche nach dem richtigen Wort Einer der größten Lügen der deutschen Sprachlehre besteht aus nur einem Wort. Synonym. Der Duden definiert: „Mit einem anderen Wort oder einer Reihe von Wörtern von gleicher oder ähnlicher Bedeutung, sodass beide in einem bestimmten Zusammenhang austauschbar sind.“ Synonyme gibt es nicht. Zumindest nicht für einen versierten Autoren. Erzähler sollten Extremisten sein, jeden Absatz, jeden Satz, jedes Wort und vielleicht sogar jede Silbe einer Geschichte abwägen. Passt es? Drückt es das aus, was ich beschreiben will? Oder führt das Wort in seinem Klang, seiner Anmutung, seiner Verwendung auf eine falsche Fährte? Verändert es vielleicht den Satzrhythmus so, dass es den größeren Zusammenhang verfälscht? Das Problem der Duden-Definition liegt im Verb „austauschbar“. Natürlich gibt es Worte, die ähnlich klingen oder das gleiche bedeuten. Niemals aber zwei Wörter, die im selben Kontext exakt dasselbe aussagen. Ob ich gegen eine Tür schlage oder klopfe, mag sich in der Beschreibung gleichen. Dasselbe ist es nicht. Es ist ein Unterschied, ob ich mit einem Knöchel-Hieb gegen eine Metalltür schlage, das Eisen erst laut scheppert, dann zitternd verklingt. Oder ob ich mit meinen Knöcheln klopfe, erst ein, dann zwei, dann vielleicht ein drittes Mal und das Scheppern so jedes Mal erneuere, das Zittern währenddessen nie richtig verstummt. Wenn ich gegen eine Tür trommle, wird das Scheppern zu einem Rhythmus, bei dem meine Knöchel die Tür so häufig und schnell hintereinander treffen, dass jedes Zittern nur den Bruchteil von Sekunden beschreibt, der sich fast unbemerkt zwischen meine Hiebe schiebt. Der Autor Mark Twain beschrieb die Suche nach dem richtigen Wort als Zwang hinter einer jeden exzellenten Erzählung. „The difference between the right word and the almost right word, is the difference between the lightning and a lightning bug“, sagte er. Der Unterschied zwischen dem richtigen und dem nahezu richtigen Wort, das sei wie der Unterschied zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen. Beim schlagen, klopfen oder trommeln gegen eine Tür mag die Suche nach dem richtigen Wort noch extrem erscheinen. Tauscht man das Beispiel, wird es deutlicher: Der Fluss floss dahin. – eher still, unauffällig, gleichgültig, farblos Der Fluss plätscherte dahin. – ein wenig lauter, auffälliger, verführerisch, idyllisch Der Fluss strömte dahin. – laut, auffällig, schnell, kraftvoll Merksatz: Der Unterschied zwischen dem richtigen und dem nahezu richtigen Wort, das ist wie der Unterschied zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.

Erzählen hat Methode: 2,3,1 – Die DNA der Struktur

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel4: 2,3,1 – Die DNA der Struktur Einer der ersten Lektionen, die ein junger Erzähler lernt, lautet: Schreibe einen lebendigen Einstieg! Schon mit dem ersten Satz will man den Leser überzeugen, jeder weitere soll tiefer in die Geschichte ziehen und Interesse wecken. Genauso wichtig ist die Lehre über den Schluss eines Textes. Ein gutes Ende besitzt Klang, hallt nach. Auch aus der Pädagogik und Psychologie wissen wir: Wer als letztes spricht, dessen Worte entfalten die größte Wirkung. Das Schreib-Handwerk hat diese Beobachtungen aus der kognitiven Psychologie adaptiert. Sie spiegelt sich in der sogenannten 2,3,1-Regel. Die Ziffern stehen stellvertretend vor allem für die Wichtigkeit, manchmal aber auch den Klang oder die Emotion des Gesagten. 2, das Wichtige, es gehört an den Anfang.3, das Notwendige, Informationen zu Verständnis oder Kontext in die Mitte. 1, das Wichtigste, es kommt zum Schluss. Sehr gute Texte spiegeln diese Struktur nicht nur im Großen, sondern auch in ihren Absätzen, Sinnabschnitten und Sätzen. Was ist also das wichtigste Element eures Satzes? Was verkörpert eure Botschaft, leitet vielleicht über zum Folgesatz, fängt am besten ein, was ihr sagen wollt? Platziert das am Ende eines Satzes. Und was leitet ein, ist wichtig, weil es als Rampe für die Aussage wirkt, die ihr treffen wollt? Platziert das am Anfang. Der Rest presst sich dazwischen. Ein (fiktives) Beispiel: Das Wichtigste in einer Beziehung, sagt Paul, das sei nicht besonders viele Gemeinsamkeiten zu haben oder denselben Geschmack zu teilen, das sei nicht Treue oder das Gefühl eine Einheit zu bilden, das sei keine Schwärmerei für den anderen und noch nicht einmal Liebe, das Wichtigste, das sei Vertrauen. Die Hauptbotschaft des Satzes setzt sich zusammen aus Das Wichtigste in einer Beziehung (2) und sei Vertrauen (1). Dazwischen erfahren wir etwas über die Person, die dieses Urteil fällt. Der Sprecher sagt dieses Urteil nicht so dahin, er hat sich Gedanken gemacht. Durch die Auswahl der Beispiele, die er nennt, erfahren wir zudem, was in einer Beziehung überhaupt wichtig für ihn ist. Der Zwischenschub liefert uns den Kontext der Gedankenwelt des Sprechers. Selbst innerhalb des Zwischenschubs spiegelt sich die 2,3,1-Regel. Gemeinsamkeiten sind wichtig für jedes zwischenmenschliche Miteinander, sie stehen in der Aufzählung am Anfang. Liebe hingegen ist der Inbegriff einer Beziehung, ein Wort mit der Macht eines Symbols – es steht am Ende. Für ganze Texte lässt sich diese Regel in etwa so übertragen: 1) Im Einstieg schaffen wir Relevanz, Neugier, Nähe. Dabei helfen uns zum Beispiel lebendige Szenen, kluge Gedanken, provokante Äußerungen oder Brüche mit Erwartbarem. Wir äußern ein Versprechen, das den Leser locken soll. Ist das Versprechen gut genug, schenkt er uns seine Zeit. 2) Die Handlung entwickelt sich. Wenn Geschichten sich entfalten, schicken sie den Leser durch emotionale Täler und nehmen ihn mit auf neue Höhen. Der Rezipient durchlebt also mehrere Wendungen. Das ist oft interessant und spannend, bestenfalls fesselnd. Immer anstrengend. 3) Das Versprechen wird eingelöst. Der Leser hat die Entwicklungen der Geschichte durchlebt und erwarb dadurch Verständnis. Im Schluss bündelt sich der gesamte Prozess aller Lektionen, Hindernisse, Erkenntnisse und Fehler, sogar der Höhepunkt klingt mit etwas Abstand noch einmal nach und und entfaltet seine Wirkung vollständig. Das Ende klingt als Echo. Merksatz: 2,3,1 – Der Einstieg bildet die Rampe für einen Flug über das Tal der Pflicht, bis wir weiterziehen, im Ohr den Nachklang des Endes. Beispiele: An dieser Stelle seien zwei Bücher zu Aufbau und Struktur von Sprache genannt, in denen viele Beispiele zusammenfinden: – The Awful German Language, Mark Twain – Writing Tools, Roy Peter Clark

Erzählen hat Methode: Details – Die Macht der kleinen Dinge

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel3: Details – Die Macht der kleinen Dinge Details sind die DNA jedes Erzählens. Eine gut platzierte Schilderung, ein sprechendes Detail kann mit einem Wort oder Satz ganze Absätze an Erklärung unnötig machen und einen Text mit Leben anreichern. Details erzeugen Stimmung. Wenn der Autor sie richtig wählt. Zu viele Texte wirken aufgeblasen durch völlig unnötige Beschreibungen. War der Papierkorb rot oder blau? Die Bettwäsche ebenfalls rot – oder doch grün? Diese Details können wichtig sein, wenn es beispielsweise darum geht, einen Künstler zu porträtieren, der das Ziel hat, das perfekte Rot zu finden. In einer Vielzahl an Fällen aber stehen diese Beobachtungen für nichts. „Stimmung“ nennen es manche, wenn sie den nebelverhangenen Morgen über einem Tal in der Provinz beschreiben, „Atmosphäre“, heißt es, wenn der grau-nasse Novembertag als Auftakt einer Sozialreportage dienen soll. Ich nenne das: Bullshit. Wetterbeschreibungen sind die schrecklichste Form der missverstandenen Wirkung von Details. Sie zeugen selten von mehr als einem Mangel an Kreativität, oder der Faulheit eines Autoren, sich gedanklich tiefer zu beschäftigen mit dem Stoff seiner Geschichte. Gute Details enthüllen Dinge, sie offenbaren etwas über die Stimmung oder den Charakter eines Protagonisten und dienen als Anker oder Katalysatoren für die Handlung. Wetter kann nichts davon bewirken. Wetter ist einfach da. Es gibt Ausnahmen, in denen eine kurze, gute Wetterbeschreibung im Text tatsächlich Stimmung erzeugt: Immer dann, wenn die erlebte Realität in direktem Zusammenhang mit dem Wetter steht. Es interessiert mich als Leser nicht, ob draußen die Sonne scheint und mit 30°C auf den Teer brennt, wenn ich drinnen den Chef einer Bank in seinem Bürogebäude treffe für ein Porträt. Genau dasselbe Detail brauche ich hingegen zwingend, schreibe ich über die Härte des Jobs als Bauarbeiter im Sommer. Verschließt sich jemand wegen einer Angststörung für Monate in seiner Wohnung, kann Sonnenschein sogar zum wichtigsten Detail des Textes werden – um den Moment einzufangen, in dem der Protagonist seine Angst überwindet. Er tritt ins Licht. Wie mächtig Details sein können, zeigen Autoren wie Dimitri Ladischensky. Der mare-Redakteur porträtierte für die Nr.120 seiner Zeitschrift deutsche Frauen, die nach Ende des zweiten Weltkriegs nach Island umsiedelten und dort einheirateten in die Familien von Bauern. Für eine jede wählte er ein Detail. In seinen Texten zeichnet er den ganzen Lebensweg der Protagonistinnen nach, indem er auf diese eine kleine Beobachtung fokussiert. Bei einer der Frauen waren es ihre Hände. Sie kam aus einer Familie des gehobenen Bürgertums, die glatten Hände gut gepflegt. Später dann werden sie erst rau, dann rissig, als sie anpacken muss auf den Äckern Islands. Dann zart, als sie ihr Kind beim Sterben begleitet, der Sohn leidet an Krebs, sie streichelt ihm in seinen letzten Stunden über die Stirn. Mutterhände. Die Erzählung begann mit den bunt lackierten Fingernägeln der alten Dame, erst am Ende fängt dieses zu Anfang stumme Detail an zu sprechen. Ihr Mann ist tot, ihre Kinder auch, sie lebt im Altenheim. Um zum ersten Mal in ihrem Leben dürfen ihre Hände einfach nur schön sein – und ruhen. Wie die Frau. Merksatz: Sprechende Details destilliert man aus den Eindrücken eines Moments, sie offenbaren etwas über die Stimmung oder den Charakter eines Protagonisten und dienen als Anker oder Katalysatoren für die Handlung einer Geschichte. Beispiele: Da viele der besten Details nur im Kontext der gesamten Geschichte ihre volle Kraft entfalten, verzichte ich an dieser Stelle auf Text-Auszüge. Als wahre Meister der Detail-Beobachtung seien aber beispielhaft einige Namen genannt wie Roland Schulz, Lena Niethammer, Johanna Romberg, Anna Mayr.

Erzählen hat Methode: Zitate – Wirkung durch Wortlaut

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel2: Zitate – Wirkung durch Wortlaut Zitate sind eines der wertvollsten Instrumente im Werkzeugkasten eines Schreibers. Sie können einen Text lebendiger machen und Wissen erzählerisch transportieren. Wenn man sie gut wählt. Setzt ein Autor Zitate willkürlich ein, ohne genaues Wissen um die Wirkung der zitierten Worte, bewirken sie das Gegenteil. Sie töten den Lesefluss. Zahlen, Daten und Fakten in Zitaten zu vermitteln ist beliebt. Und ein Grundsatzfehler. Die sogenannte „Expertenstimme“ eignet sich gut für Radiobeiträge, ein Wissenschaftler beispielsweise nennt Daten und Fakten mit der eigenen Stimme. Das macht die Einordnung authentisch und verleiht dem Beitrag Seriosität. Das geschriebene Wort aber funktioniert nicht derart direkt über den Wechsel von Stimmfarbe und Sprachmelodie. Hervorragende Zitate in einem Text wirken als Szenen. Besonders deutlich wird das in Dialogen, in denen kurze Sprach-Frequenzen von mindestens zwei Personen uns eine kleine Geschichte erzählen. A: Komm sofort zurück! B: Nein! A: Du versaust dir dein Leben, wenn du das tust! B: Was kümmert es dich? Du bist nicht meine Mutter! A: Doch. Weil sie Stimmung entfalten können, werden Dialoge oft als „beste“ oder „eleganteste“ Form des wörtlichen Zitats beschrieben. Das stimmt nicht. Herausragende Zitate können völlig abseits eines Dialogs stehen und den Leser dennoch mit der Wucht eines Peitschenhiebs treffen. Wenn sie als Szene gedacht werden und als solche funktionieren. Der Vorteil eines jeden Dialogs ist: Er zwingt Zitate in Szenen. Ein gutes Zitat verrät dem Leser etwas über die Stimmungslage oder die Meinung des Sprechers, im besten Fall enthüllt es einen Teil seines Charakters. Merksatz: Gute Zitate wirken als Szenen, sie sind Teil einer Handlung oder enthüllen etwas über die Meinung, Stimmungslage oder die Persönlichkeit der zitierten Person. Beispiele: – Ihr erstes Mal war auf einem Bett in Offenburg, in einem unaufgeräumten Jungenzimmer. Sie sagte ihm: „Das ist mein erstes Mal.“ „Soll ich Kerzen anmachen?“ „Nicht nötig.“ (Britta Stuff – Die junge Frau, die keine Erregung empfindet, WELT) – „In das schicke Zeug muss ich heute noch früh genug“, sagt mein alter Lehrer. Er greift sich eine Anzugjacke, zieht sie nicht an und steigt ins Auto, wie ich ihn kenne: in Pulli und ausgewascherner Jeans. (Manuel Stark – Schulfrei, Schade, DIE ZEIT) – Der Junge nimmt die Parfumflasche aus seinem Rucksack und besprüht die Ameisen und Blumen am Wegesrand. „Jetzt riechen sie gut“, sagt er, während sich die Insekten krümmen und verenden. (Karl Grünberg – Kinder in Not, Tagesspiegel)

Erzählen hat Methode: Einstieg – Bruch & Nähe

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel1: Einstieg – Bruch & Nähe Ein Text braucht einen szenischen Einstieg, um zu wirken. So oder ähnlich lautet eine vielzitierte Regel gegenüber Einsteigern im Journalismus. Aber: Das ist nicht ganz wahr. Wichtig ist nicht die Szene, sondern die Nähe, die sie aufbaut. Damit ein Text Sog entwickelt, muss er von Beginn an einen Schlüsselreiz aufwerfen, also etwas, mit dem ein Leser sich identifizieren kann. Szenen eignen sich deswegen oft sehr gut, weil sie durch Handlungen Kino im Kopf erzeugen und wir uns gedanklich in fast jede Handlung einfühlen können. Denselben Effekt erzeugen kann aber auch ein Gedanke, eine Metapher oder eine Frage. Wichtig ist, klar, präzise und möglichst einfach zu formulieren anstatt sich in der Suche nach möglichst klangvollen Beschreibungen zu verlieren. Natürlich ist der Klang von Worten ein wertvolles Instrument, Nähe aber entsteht am besten durch das konkrete, das treffende Wort. Ein toller Einstieg liefert nicht nur Identifikation, sondern bricht mit dem Erwartbaren – und schafft so noch größere Nähe, durch Neugier. Merksatz: Jede gute Geschichte birgt das Versprechen, einen Teil von uns in ihr wiederzufinden – und jeder gute Einstieg ruft dieses Versprechen dem Leser zu. Beispiele: – „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.“ (Tolstoi – Anna Karenina) – „Es ist Sonntag, milchblauer Glast hängt über dem Meer, und der Zwanzigtausend-Menschen-Retter hat keinen, der ihn feiert.“ (Dimitri Ladischensky – Das Dilemma des Commandante, mare Nr. 49) – „Die eigene Hässlichkeit kann ein Rausch sein. Wenn man sie umarmt und das Grauen in den Gesichtern derer sieht, die einen beobachten und verachten, aber sich nicht an einen herantrauen, dann strömt Macht durch die Adern wie elektrischer Strom.“ (Daniel Schulz – Wir waren wie Brüder, taz am Wochenende)

Mein Mentor macht Schluss

Ohne meinen alten Grundschullehrer wäre mein Leben anders verlaufen. Im größten Gebrüll lehrte Heinrich Zweyer den Respekt vor den Stillen. Was macht so ein Lehrer ohne seine Kinder? Ein Besuch am letzten Arbeitstag. Erschienen in DIE ZEIT, 09.01.2020 Es gibt Lehrer, die begeistern sich für ihr Fach, nicht für Kinder. Andere stellen Regeln auf und ahnden Verstöße mit Nachsitzen oder Strafarbeit. Herr Zweyer war anders. Er nahm Ideen ernst, dachte über Einwände nach. Er glaubte nie, es als Erwachsener sowieso besser zu wissen. 2013 fragte das Allensbach-Institut 536 Lehrer, wie viel Einfluss auf ihre Schüler sie zu haben glauben. Fast die Hälfte gab an: wenig oder keinen. Meine Erfahrung widerspricht ihrem Selbsturteil: In der dritten Klasse beobachtete ich immer wieder, wie ältere Schüler aus dem Gymnasium und der Realschule unsere Klasse besuchten. Sie nahmen meinen Lehrer in den Arm, nach dem Unterricht redeten sie mit ihm über Schule und Noten, Streit mit den Eltern und erste Probleme in der Liebe. Ich war eines dieser Kinder, die so lange »Warum?« fragten, bis das Gegenüber aufgab. Zweyer hat selten aufgegeben. Als ich in der vierten Klasse wissen wollte, woher Wasser kommt und wieso es nicht weniger wird, obwohl es so viele trinken, sprang er vom Mathe- Unterricht in die Heimat- und Sachkunde, ließ die Arbeitshefte wechseln und malte Skizzen an die Tafel. Den Kreislauf des Regens. Ähnliche Bilder sah ich das nächste Mal in der sechsten Klasse – Erdkunde-Unterricht. Der Inhalt ähnelte sich, nur die Wörter waren komplizierter. John Hattie, einer der einflussreichsten Bildungsforscher, sagt: Der Lehrer bestimmt, was Schüler lernen. Andere Einflüsse sind zweitrangig bis irrelevant. Ein Lehrer müsse den Einzelnen wahrnehmen und rasch entscheiden, wann er streng reagiert und wann mit Humor. In Hatties Thesen erkenne ich den Lehrer meiner Kindheit, der mit Liedern einsprang, wenn wir Schüler überfordert waren von Englisch oder Mathe, und der nur laut wurde, wenn man auch nach der dritten Ermahnung noch quatschte. Er sprach schnell und sprang zu Metaphern, wenn es half. Heinrich Zweyer war ein Gedankentänzer. Heute stolpern seine Sätze manchmal… […] Gesamter Text in DIE ZEIT oder online auf zeit.de

Meine Oma ist eine ganz normale Rentnerin. Warum geht sie putzen?

Meine Oma ist eine ganz normale Rentnerin. Warum geht sie putzen?

Helga Hofmann (75) bezieht eine Rente in Höhe des deutschen Durchschnitts. „Heute schmerzt das Geld schon, wenn ich ein Glas Wein bestelle“, sagt sie. Und reinigt die Wohnung einer anderen Frau, um ihre Teilhabe am sozialen Leben nicht vollkommen zu verlieren. (Veröffentlich in: DIE ZEIT) Textausschnitt: Sie ist 75 Jahre alt und für mich der Inbegriff von Eleganz: Jeden Morgen nach dem Aufstehen dreht sie sich kleine Wellen in ihre blond gefärbten Haare und schminkt sich, immer dunkel, um ihre Augen zu betonen, die schon lange von Blau zu einem hellen Grau verblasst sind. Sie trägt ihren Schmuck in Gold, als Kette um den Hals oder als Reif ums Handgelenk. Wenn sie spricht, zeigt sie Bildung, ans Französische angelehnte Fremdwörter drängen so häufig in ihre Erzählungen, dass ich mir als Kind angewöhnt habe, vor allem auf den Kontext des Gesagten zu achten. Heute trägt sie blaue Jeans und einen schwarzen Pullover, beides ist ihr zu weit und wirft Falten, ihren Schmuck hat sie zu Hause gelassen. Nur geschminkt ist sie auch jetzt. »Ein bisschen strahlen möchte ich schon«, flüstert sie mir zu. Es ist Mittwoch, zehn Uhr, und wie jeden Mittwoch, Punkt zehn, klingelt Helga Hofmann an der Tür des Mehrfamilienhauses in einer Seitenstraße des oberfränkischen Städtchens Bad Staffelstein. Wie jedes der Häuser hier besitzt auch dieses einen kleinen Garten, wintergrüne Pflanzen, eigene Parkplätze – Dorfidylle, die mit den Grundstückspreisen einer Bäderstadt bezahlt werden will. Es knackt in der Sprechanlage, die Tür summt. Erster Stock links. Uns öffnet eine kleine Frau mit lichtem weißem Haar, sie geht leicht gebückt. »Pünktlich wie immer«, sagt sie und lächelt. Oma wendet sich zum Bad und greift nach zwei pinken Gummihandschuhen, die sie aus einem dunkelblauen Plastikeimer zieht. […] Link: https://www.zeit.de/2018/20/rente-putzen-job-geld-altersarmut

Geteiltes Leid

Geteiltes Leid

Ein Ehepaar verliert sein einziges Kind durch einen Motorradunfall. Die Mutter will das Motorrad loswerden, um das Unglück verarbeiten zu können. Der Vater will es reparieren – aus dem gleichen Grund. (Veröffentlicht in: Süddeutsche Zeitung Magazin) Textausschnitt: 2. AUGUST 2015 Die Großmutter hätte aufs Motorrad spucken sollen. Doch genau wegen dieser Angewohnheit wollte Sven sie nicht mit seiner Maschine besuchen, die Großmutter hatte schon auf sein erstes Auto gespuckt, um allzeit gute Fahrt zu wünschen. Svens Eltern, Jörg und Elfi Drenkard, fahren also ohne ihn. Erzählen der Großmutter, dass Jörg und Sven gemeinsam den Motorradführerschein gemacht haben. »Mach dir keine Sorgen«, sagt Jörg Drenkard am Kaffeetisch zu seiner Mutter. »Sven ist vorsichtig. Der bleibt lieber zehn Stundenkilometer unter als über dem erlaubten Limit. Da passiert nichts.« Zu Hause macht Sven sich für eine Tour mit dem Motorrad bereit. Ein Freund begegnet Sven eine Stunde später zufällig an einer Straßenbiegung kurz vor der Ortschaft Würgau in der fränkischen Schweiz, zwanzig Kilometer östlich von Bamberg. Sven steht am Straßenrand, seine weiße Kawasaki liegt neben ihm im Gras. Er ist gestürzt. Der Freund will wissen, ob etwas passiert sei. Nein, sagt Sven. Er wirkt wütend. Es sei besser, mit dem Weiterfahren etwas zu warten, rät der Freund. Erst mal runterkommen und warten, ob alles okay sei. Stattdessen greift Sven nach seinem Helm. Abschiedsgruß. Dann fahren beide in entgegengesetzte Richtungen weiter. Warum Sven stürzte, bleibt unklar. Vielleicht ist er einem Tier ausgewichen oder zu scharf abgebogen und mit dem Vorderrad weggerutscht. Fest steht, dass Sven nur wenige Minuten weiterfährt, bergab durch das Dorf Würgau, etwa einen Kilometer entfernt, bevor er erneut stürzt. Als Svens Eltern von der Großmutter zurück nach Hause kommen, rennt die Nachbarin auf sie zu. Die Polizei war da. Worum es geht? Weiß sie nicht. Im Haus klingelt das Telefon. Es ist Nadine, Svens beste Freundin. Sie hat auf dem Onlineportal der Regionalzeitung von einem Unfall gelesen. Der 21 Jahre alte Fahrer eines Motorrads, Marke Kawasaki, beschleunigte kurz nach dem Ortsschild Würgau auf der B22. Die zwanzig Jahre alte Fahrerin eines VW vor ihm bog scharf nach links ab. Das Motorrad prallte gegen das Heck des Autos. »Wo ist der Sven?«, ist Nadines erste Frage. »Der Sven ist mit dem Motorrad unterwegs «, antwortet der Vater. »Wo unterwegs?« »Am Würgauer Berg.« »Es tut mir leid, es tut mir so leid!« Nach dem Telefonat geht Jörg Drenkard in die Küche, dann ins Arbeitszimmer. Zieht seine Hose aus und wieder an, ohne zu wissen, wieso. Er setzt sich auf die kleine Holzbank vor dem Haus. Warten. Ein Polizeiwagen stoppt am Straßenrand, zwei Polizisten und ein Sozialhelfer steigen aus. »Sagt mir nicht, dass er tot ist«, sagt der Vater. »Doch.« Elfi Drenkard sitzt trotz der Nachricht bis 21 Uhr auf der Couch und wartet, um 21 Uhr wollte ihr Sohn zu Hause sein. Er war doch immer pünktlich. […] Link: https://www.sueddeutsche.de/leben/eine-familie-trauert-um-den-sohn-geteiltes-leid-1.3796876?reduced=true