Erzählen hat Methode: Rausschmeißer – Teil I: Die Klammer

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte!

Kapitel8: Rausschmeißer – Die Klammer

Wie alles Schreiben, folgen auch die Möglichkeiten einen Text zu beenden gewissen handwerklichen Regeln. Meister des Fachs können, wie überall, diese Regeln brechen – und so herausragende Ausstiege schreiben, die perfekt abgestimmt sind auf eine einzigartige Geschichte.

Und doch besitzen Regeln und Kniffe ihren Wert: Setzt man sie gekonnt ein, entfalten Textausstiege ein Echo, das laut und lange klingt. Der narrative Journalismus kennt drei klassische Herangehensweisen, eine Erzählung zu beenden:

1. Die Klammer (circle kickers)

2. Der Schlag (punch kickers)

3. Das Zitat (quote kickers)

Zu den Techniken von punch und quote werde ich jeweils einen eigenen Beitrag verfassen. An dieser Stelle möchte ich mich auf den circle kicker konzentrieren, die Art von Ausstieg also, der einen Text wie eine Klammer zusammenhält.

Die Klammer:

Es ist die vielleicht am häufigsten gewählte Technik junger Autorinnen und Autoren: die Klammer. Und das völlig zu Recht! Die Methode zählt zu den mächtigsten Möglichkeiten, eine Geschichte zu beenden.

Wählt man die Klammer-Methode, beziehen sich Einstieg und Ausstieg eines Textes aufeinander. Setzt man sie richtig ein, wird der Leser schon beim Einstieg auf eine Spur geschubst, auf die er sich am Ende noch einmal rückblickend beziehen kann. Dadurch, dass uns das Klammer-Ende vorangegangene Szenen, Geschehnisse oder Gedanken aus dem Klammer-Anfang noch einmal ins Gedächtnis ruft, wird deutlich, was sich dazwischen verändert hat.

Klammer-Ausstiege fokussieren auf den Kontrast zwischen Beginn und Ende einer Geschichte. Sie setzen die Entwicklung zwischen diesen beiden Punkten unters Brennglas. Und verankern so die Botschaft einer Erzählung in unserer Erinnerung.

Besonders wirken solche Ausstiege in Texten, in denen ein Kreislauf aufgezeigt werden soll. Beispielsweise über das Werden und Vergehen in der Natur, überlässt man ein überfahrenes Reh dem Wirken des Waldes:

Auszug Klammer-Einstieg: „[…] Grelles Licht, etwa 80 Kilometer pro Stunde, da springt ein Schemen aus der Nacht, vielleicht hallt ein Hupen über die Straße und verfängt sich am Waldrand in Zweigen. Irgendwo im Wald nehmen Wurzeln Nährstoffe auf, wo der Rehkörper liegen blieb, düngen besonders viel Phosphor, Magnesium, Kalium den Boden. […]“

Auszug Klammer-Ausstieg: „[…] Ein paar Meter weiter saugen Wurzeln nach dem Dünger, vielleicht hilft die Energie einem Sprössling beim Wachsen: Erst schiebt sich ein Blatt aus der Erde, dann ein Stiel, irgendwann gedeiht ein Bäumchen. Zarte Triebe werden gerne gefressen von Rehen. […]“

– Quelle: Manuel Stark in Science Notes; Ausgabe: ‚Wildnis‘, April 2021

Gekonnt eingesetzt, kann diese Technik zu mehr verhelfen, als einem klingenden Ausstieg. Eine Klammer kann einer geeigneten Erzählung eine eigene Meta-Ebene hinzufügen: Von Geschichten erwarten wir Entwicklung, eine Veränderung die sich auf der Handlungsebene und damit in uns als Leser vollzieht. Am Ende muss irgendetwas also anders sein, als am Anfang.

Oder?

Das Leben ist nicht so stringent. Oft sind Menschen gefangen in struktureller Benachteiligung oder persönlicher Angst. Die Protagonisten einer Geschichte erleben und durchleben zwar Geschehnisse, sie entwickeln sich dadurch sicher auch. Aber sie entkommen den Fesseln nicht, die sie an eine Sache, eine Gewohnheit oder ein Problem binden. Die Außenwelt ist zu mächtig. Ebendiese Ausweglosigkeit, in der Menschen ihren (Lebens-) Umständen ausgeliefert sind und bleiben, kann die Klammer-Methode unterstreichen.

Gekonnt beweist das die Autorin Cathrin Schmiegel in ihrem Text über eine Frau, gefangen in den strukturellen Problemen von Altersarmut:

Auszug Klammer-Einstieg: „Sie hatte in ihrem Leben zwei Ehemänner verloren und ihr ganzes Vermögen, als Ingrid Millgramm, geboren 1933, in einem Supermarkt stand und eine Packung Rinderhackfleisch aufriss, 500 Gramm, reduziert. Sie nestelte einen Gefrierbeutel aus ihrem Weidekorb und schüttelte das Hackfleisch hinein, sah über ihre Schultern, nach rechts, nach links, zur Fleischtheke hinüber, zum Kühlregal. Beobachtet mich jemand?

[…]An der Kasse legte sie die Butter auf das Band, das erste und das zweite Paket Knäckebrot. Nur den Klumpen Fleisch ließ sie im Korb […]“

Auszug Klammer-Ausstieg: „Drei Tage vor Heiligabend wird Ingrid Millgramm freigelassen. Zwei Polizisten, eine Frau, ein Mann, fahren sie mit dem Streifenwagen zu ihrem Haus.

In den nächsten Wochen wird sie erst mal abwarten, dass sich der Husten beruhigt. Dann wird sie sich um ihre Dinge kümmern. Sie wird ihre Bewährungshelferin anrufen, sie wollen versuchen, mehr Wohngeld auszuhandeln. Und dann, wenn die Nahrungsvorräte ausgegangen sind, wird Ingrid Millgramm aufstehen aus ihrem Ohrensessel, zittrig und steif, einen Kamelhaarmantel überstreifen, nach ihrem Korb greifen und mit dem wenigen Geld, das ihr noch geblieben ist, einkaufen gehen.“

– Quelle: Cathrin Schmiegel in DER SPIEGEL; 08. Juni 2018

Die Autorin schreibt „einkaufen gehen“ und doch fragt man sich als Leser: Was bedeutet das – „einkaufen“? Geht die Frau erneut stehlen? Und irgendetwas in uns flüstert: natürlich! Wie soll sie denn auch sonst über die Runden kommen, die Umstände haben sich ja nicht geändert.

Für uns als Leser ist nach dem Text aber etwas passiert: Wir wissen plötzlich um diese Struktur. Durch die Geschichte von Frau Millgramm haben wir sie szenisch erlebt. Wir haben uns verändert. Das Leben der Dame hingegen verharrt scheinbar im Stillstand. Sie ist gefangen in den übermächtigen Strukturen der Altersarmut, der sie einfach nicht entkommt.

Der geschickte Einsatz der Klammer-Methode injiziert uns zwei widersprüchliche Impulse: In uns treffen Veränderung und Stillstand aufeinander. Unser Wissenszugewinn will nicht zusammenpassen mit der stupiden Wiederholung, die das Leben der Frau zu nehmen scheint. Das sorgt für Irritation.

Unser Hirn aber strebt nach Harmonie und will diese Verwirrung auflösen, indem es die widerstreitenden Pole – Veränderung und Stillstand – zusammenbringt. Die Folge: Die Situation von Frau Millgramm und das Thema der Altersarmut in Deutschland arbeiten in uns weiter.

Merksatz:

Klammer-Ausstiege fokussieren auf den Kontrast zwischen Beginn und Ende einer Geschichte, sie setzen die Entwicklung unters Brennglas.