Lost & Found in Tötensen

Es ist einer der größten Medienskandale der deutschen Geschichte: Der „Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat Dutzende Reportagen erfunden. Wie lebt einer weiter, dessen Leben in Trümmern liegt? Und was geht mich das an?
Reportage: Alexander Rupflin Illustationen: Thomas Kuhlenbeck

Der Ort heißt Tötensen. In den Gärten wehen an Fahnenmasten Deutschland- und Werder-Bremen-Flaggen; selten blaue HSV-Fähnchen. Und der Einzige, den man an einem üblichen Nachmittag hier auf den Straßen trifft, ist der Wind.

I.

Claas Relotius ist hier aufgewachsen und hier wohnt er wieder in seinem Elternhaus und er spielt gerne Fußball auf dem Fußballplatz, der fast direkt gegenüber des Elternhauses grünt. Er spielt Fußball eher im Stile von Bastian Schweinsteiger als Cristiano Ronaldo. Gelassen, trabend, die Übersicht bewahrend. Nicht der Typ, der sich in der Vordergrund drängt und ständig den Ball fordert. Keiner, der sich für jede gelungene Aktion feiert. Aber umgehen kann er mit dem Ball. Kann er wirklich.

Um Claas Relotius und mir für ein gemeinsames Treffen ein paar Tage Zeit zu geben — man muss sich ja erst einmal annähern — mietete ich mich für eine Woche im Wox-Hotel ein, erleichtert, dass ein Ort, der keine Kirche hat, kein Rathaus, keinen Bäcker, keinen Metzger, keine Kneipe, immerhin ein Hotel bietet. Ich fühlte mich wohl, auch wenn ich nicht zur Erholung gekommen war. Dabei hätte ich ein wenig Entspannung vertragen können, nach den unzähligen Telefonaten, die ich in den Tagen vor meiner Ankunft geführt hatte, und die früher oder später immer damit geendet hatten, dass der andere in den Hörer rief: „Mit sowas will ich nichts zu tun haben. Nein, dazu sage ich gar nichts. Das geht Sie doch überhaupt nichts an!!“

Das erste Mal bin ich Claas Relotius im Winter 2018 in Berlin begegnet, bei der Verleihung des Deutschen Reporterpreises, in dem Festzelt gleich neben dem Kanzleramt. So hatte ich mir immer die Gala des „Immobilienmanager-Awards“ vorgestellt. Roter Teppich, buntes Licht, Häppchen, Sekt, Abendgarderobe, im Magen kitzelnde Bässe. Glamour, Baby! Aber irgendwie auch: O’zapft is!

Im Zelt roch es nach der sanften Melange edler Eaux de Toilette und Schweiß und neben mir an der Bar stand Sascha Lobo. Als sein roter Hahnenkamm in einem Einspieler auf der überdimensionierten Leinwand erschien, blickte das Original starr auf den Boden und ertrug nicht, sich in Übergröße zu erleben. Hätte ich nicht gedacht.

Drei Stunden verliehen die Veranstalter Preise in verschiedenen Kategorien. Bestes Interview, bester Datenjournalismus, bester Essay, beste Kulturkritik, beste Sportreportage, beste Wissenschaftsreportage, beste Lokalreportage und so weiter. Der Höhepunkt: die „Beste Reportage“. Sozusagen der Oskar unter den Journalistenpreisen.

Der Gewinner: Claas Relotius.

Applaus, pumpende Bässe, Laudatio, pumpende Bässe, Applaus.

Relotius im Scheinwerferlicht. Über einem schwarzen Pullover trug er den schwarzen Slim-Fit-Anzug. Dazu braune Stiefel, die sagten: Sorry, muss gleich wieder von Gala zu Abenteuer und Blazer gegen Lederjacke tauschen. Der Moderator: „Jetzt sind Sie ja schon hin und wieder auf einer Preisverleihungsbühne als Preisträger gewesen. Wie verhindern Sie, dass Sie einer dieser Dicke-Hose-Journalisten werden?“

Relotius lächelte dünn und sanftmütig. Griff sich das Mikro.

„Ich würde lieber über den Text sprechen, weil das wirklich ein ernstes Thema ist, und da so flapsig drüber reden, würde dem nicht gerecht werden.“

Anerkennendes Nicken im Publikum.

„Ein Kinderspiel“ hieß die Reportage, die die Jury an diesem Abend zur Besten des Jahres gekürt hatte, darin ging es um einen 20-jähigen Jungen, der angeblich für den syrischen Bürgerkrieg mitverantwortlich ist.

Ich kannte den Text nicht und ich hatte noch nie von Claas Relotius gehört, was ich zum Glück niemanden erzählte, denn auf der After-Show-Party sprachen alle über ihn wie über einen alten Schulfreund. Ich erfuhr, dass Claas Relotius der Shooting-Star der Branche sei, für den „Spiegel“ arbeite, gerade mal Mitte Dreißig sei und so ziemlich jeden Journalistenpreis abgeräumt hatte, den man abräumen kann. Er habe aus USA, Syrien, Guantanamo, Mexiko und Kiribati berichtet, eigentlich von überall, und sei dennoch ungemein freundlich und bescheiden.

Und ich so: WOW!

Ich begriff, wer Reporter sein wollte, sollte werden wie Claas Relotius. Integer, wissbegierig und die Wirklichkeit aufsaugend mit all seinem zur Verfügung stehenden Lungenvolumen, um dann wahre Worte über die Welt niederzuschreiben. Den Rest des Abends trank ich meine Gratis-Aftershow-Gin-Tonics auf diesen Superstar der deutschen Presselandschaft, und der Barkeeper zeigte mir den Milchzahn seines Sohnes, der an einer Goldkette hing. An alles danach erinnere ich mich nicht mehr.

Sechzehn Tage nach der Preisverleihung in Berlin verkündete der „Spiegel“ auf seiner Internetseite: „SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen“. Die Enthüllung: Claas Relotius habe einen Großteil seiner Reportagen gefälscht. In manchen Texten Details, andere Reportage seien fast komplett erfunden, die Menschen, die Geschehnisse, so ziemlich alles. Preisgekrönte Reportagen, ausgebreitet vor einem Millionenpublikum, nichts als Märchen und Kitsch. Relotius, der Vorzeige-Reporter, war über Nacht zum Hochstapler jener Branche geworden, die für sich die Wahrheit gepachtet hat, und schnell einigten sich die Journalisten: Der „Fall Relotius“ sei der größte Medienskandal seit den „Hitlertagebüchern“ im „Stern“.

Im darauf folgenden halben Jahr prüfte eine Aufklärungskommission des „Spiegel“ alle 60 Reportagen und Artikel, die Relotius für das Magazin geschrieben hatte, und veröffentlichte einen mehrseitigen Abschlussbericht. Zugleich schrieb Juan Moreno, der Mann der Stunde, der Mann, der Relotius überführt hatte und ebenfalls für den „Spiegel“ arbeitet, an einem Buch mit dem Titel „Tausend Zeilen Lüge — Das System Relotius und der deutsche Journalismus“. Sogar die Filmrechte an seiner Enthüllungsstory hat Moreno verkauft.

Die Medienbranche reagierte also entsprechend ihrem Naturell. Die feinen Antennen erkannten das Außergewöhnliche, das Geschehnis, das vom definierten Soll- und Normzustand abwich, das Geschehnis wurde auf seine Relevanz hin geprüft (sehr hoch!) und dann wurde das Geschehnis in den brancheneigenen Code transferiert: die Nachricht.

Die Nachricht macht ein Geschehnis zu Text, Bild und Ton — und damit die Wirklichkeit fassbar. Denn das Geschehnis selbst, in seinem komplexen Jetzt-Zustand, überfordert den menschlichen Verstand. Dem Geschehnis fehlt erst einmal die Kausalität, weswegen sie für den Menschen nicht fassbar ist. Wie ein Wasserstrahl, nach dem er greifen will. Der Mensch braucht das Medium, damit er sie, die Wirklichkeit und ihre Geschehnisse, bedenken und beurteilen kann. Damit er fragen kann „Wie?“ und „Warum?“. Der Fall Relotius war ein solches Geschehnis, und er war noch dazu eins, das die Medienbranche selbst betraf. Die Medien mussten mit sich selbst umgehen.

Ich denke, im schlimmsten Fall kann es der Presse in einer solchen Situation gehen, wie der Ascidiae, auch Seescheide genannt. In der Jugend schwimmt sie munter durch den Ozean und frisst haufenweise Plankton. Aber dann, wenn sie älter und träge geworden ist, unzählige Male Plankton gefressen und wieder ausgeschieden hat, dann lässt sie sich als unbewegliches Etwas auf dem Meeresboden nieder und frisst ihr eigenes Gehirn.

Umgekehrt, also im Idealfall, betreibt der Journalismus in einem solchen Moment natürlich nicht weniger als echte Aufklärung und Selbstreflexion.

Ich glaube, das ist ein guter Zeitpunkt, um einmal auf die unzähligen Telefonate (und mindestens eben so viele E-Mails) zu sprechen zu kommen, die ich in den Tagen vor meiner Ankunft in Tötensen geführt hatte. Ich hatte mich gefragt, wie jemand wie Claas Relotius sein Leben weiterlebt, nachdem dieses komplett implodiert ist. Relotius ist ein Journalist, der sich nie wieder in einer Redaktion blicken lassen kann. Was macht so einer, dessen gesamtes Leben und Wirken auf Lügen fußt, nachdem er entlarvt und damit zum Produkt der Maschinerie wurde, die er früher so scheinheilig gefüttert hatte? Wo findet ein Mensch Orientierung, dessen Leben eine Lüge, ein Märchen, eine Phantasiewelt war?

Über Tage kontaktierte ich alte Schulfreunde, Kommilitonen und Professoren von Relotius und stellte ihnen diese Fragen. Außerdem telefonierte ich alle im Telefonbuch durch, die dort mit dem Namen Relotius standen. Jedes Mal erhielt ich die gleiche Antwort: „Mit sowas will ich nichts zu tun haben. Nein, dazu sage ich gar nichts. Das geht Sie doch überhaupt nichts an!!“ Ihre harsche Ablehnung machte mich neugierig. Warum hielten alle zu diesem Mann, der sie so gründlich belogen hatte? Müde von den vielen Telefonaten beschloss ich, in das Dorf zu reisen, in dem Relotius aufgewachsen war.

II.

Der einzige Ort in Tötensen, an dem man Menschen außerhalb ihrer Häuser trifft, ist das Sportheim. Dort befinden sich zwei Tennisplätze und ein Fußballfeld sowie eine kleine Vereinshütte mit Umkleide. Nachdem ich an meinem ersten Tag in Tötensen relativ orientierungslos durch die wenigen Straßen geirrt und niemandem begegnet war, den ich auf Claas Relotius hätte ansprechen können, hörte ich jetzt am Abend das dumpfe Plop-Plop geschlagener Tennisbälle, das der Wind durch die Gassen wehte.

Auf dem Tennisplatz stand Hinnerk W. auf der weißen Grundlinie und trainierte mit seinem Trainer Aufschläge. Ich rief ihm durch den Maschendrahtzaun zu, ob er zufälligerweise Claas Relotius kenne. Er kam zu mir und sagte, etwas außer Atem, er sei sogar mit ihm befreundet. W. hatte ein markantes Kinn und riesige Hände. Nach seinem Training setzten wir uns auf die Plastikstühle vor dem Vereinsheim und tranken Bier. W. erzählte, dass er Relotius erst vor ein paar Tagen getroffen hätte. Der arme Kerl werde ja seit seiner Kündigung beim SPIEGEL psychiatrisch betreut, denn er habe eingesehen, dass er krank sei. Um welche Krankheit es sich dabei handle, konnte W. mir nicht sagen, aber er kenne Relotius seit der Kindheit.

„Wir haben zusammen Sport gemacht. Waren zusammen in der Schule und der Dorfjugend.“

Hier in Tötensen, dass versicherte er mir, erfahre Relotius großen Rückhalt, habe viele Freunde, die zu ihm stünden und persönlich finde er es schwierig, wie die Presse da vorschnell geurteilt habe, ohne die genauen Beweggründe zu kennen.

„Vielleicht war es Vorsatz, das zeichnet sich für mich aber nicht ab. Eher Veranlagung oder eben ein Krankheitsbild.“

W. wägte sehr gründlich ab, was er mir sagte, machte viele Pausen, sah mich fast nie an.

„Sie haben hier mit Herrn Relotius ab und an Tennis gespielt?“, fragte ich.

„Nee, was anders.“

„Ach so?“

„Ich bin da jetzt bisschen … also das … Ich find das ja schon interessant, dass man das rausfindet, wo man gucken muss, wenn man Herrn Relotius sucht.“

„Steht im Telefonbuch.“

„Ah ja.“ Pause, dann: „Ich möchte ihn schützen, verstehen Sie. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen darf. Wissen Sie, ich habe Herrn Relotius immer vertraut und ich denke, dass er vom Typ her genauso ist, wie ihn viele kennengelernt haben. Ein offener freundlicher Mensch, mit einer sehr angenehmen Art.“

W. versprach, meine Telefonnummer an Relotius weiterzugeben. Dann redete er eigentlich nur noch über den ständig gesperrten Elbtunnel und Dieter Bohlen, der auch in Tötensen lebt. Ich trank mein Bier aus und verabschiedete mich.

Auf dem Weg vom Sportplatz zurück zum Wox-Hotel kam ich am Haus der Familie Relotius vorbei. Tagsüber hatte ich mich nicht einmal getraut, in das Grundstück zu spähen, und jetzt war es bereits zu dunkel, um noch etwas zu erkennen. Aber in der langgezogenen Einfahrt erahnte ich ein geparktes Auto. Jemand war zu Hause.

Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen und schweren Zweifeln auf. Was, wenn Claas Relotius wirklich psychisch krank ist? Sollte man ihn nicht in Frieden lassen? Andererseits: Was, wenn Claas Relotius kein Journalist gewesen wäre, sondern Manager, der Gelder veruntreut hätte? Oder Dieter Bohlen, in dessen Tötensener Villa mal wieder eingebrochen worden war? Relotius hatte, ungewollt und unrühmlich, deutsche Mediengeschichte geschrieben und sich damit selbst zum Objekt gemacht, das öffentlich verhandelt gehört. Ist man da als Reporter nicht förmlich gezwungen nachzurecherchieren? Ich entschied mich zu folgenden Kompromiss: Vorerst wollte ich einen Bogen um das Haus der Familie machen und nur im erweiterten Umfeld nachfragen.

Zuerst besuchte ich ein Autohaus, das am Rand des Dorfes an der Bundesstraße liegt. Im Werkstattradio lief blechern „Giant“ von Calvin Harriy & Rag’n‘Bone Man. Der Mechaniker sprach im tiefen Plattdeutsch. Natürlich kenne er die Familie, aber sagen wollte er nichts. „Wir halten hier zusammen“. Sein Kollege stand schweigend neben ihm, in der Hand ein Stück Auspuff.

Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Bundesstraße, lag der Friseursalon von Christiane Bredehöft. Der Laden war nicht viel größer als mein Zimmer im Wox-Hotel. Die Friseurin grüßte erst freundlich, hielt dann aber von meinem Interesse an der Familie Relotius allzu wenig. „Nein, gerade mit Ihnen werde ich darüber bestimmt nicht sprechen.“

Ich spazierte ins Dorfinnere, die Straßen waren leer, nicht einmal Kinder spielten. Ich klingelte bei der Ortsbürgermeisterin. Es öffnete die Tochter. Nein, ihre Mutter sei nicht zu Hause, und sie selbst wolle über die Familie Relotius nichts sagen.

Ich ging in die Straße, in der das Haus der Familie Relotius steht und läutete bei den Nachbarn. Die Reaktionen fielen wie folgt aus:

Nachbar rechts, milde lächelnd: „Das ist eine private Sache und solche Dinge sollten so behandelt werden. Tut mir leid, Ihnen nicht weiterhelfen zu können.“

Nachbar links, mit kläffenden Hund an der Leine: „Ich will dazu nichts sagen. Das geht Sie nichts an! Und, nein, dass Sie mich beim Gassigehen begleiten, möchte ich auch nicht. Lassen Sie uns in Ruhe.“

Zwischen Nachbar links und dem Grundstück der Familie Relotius entdeckte ich auf dem gepflasterten Boden ein totes, ungefiedertes Küken. Es lag da, wie von der Welt verlassen. Ich notierte mir dieses Detail, fragte mich zugleich, wann ein Symbol noch ein Symbol ist und wann daraus vor allem Kitsch wird. Für was sollte das tote, nackte Küken, über das sich die ersten Fliegen hermachten, denn stehen? Für Claas Relotius, der vorschnell hoch hinaus wollte, und dann aus seinem SPIEGEL-Nest fiel? Oder für meine Story, die am zweiten Tag ziemlich todgeweiht schien? Ich steckte Stift und Block wieder ein und ging zurück ins Wox-Hotel. Ein vergeudeter Tag. In der Einfahrt der Familie Relotius stand noch immer das geparkte Auto.

Tag drei. So konnte es nicht weitergehen. Ich schrieb der Familie Relotius einen Brief, und erläuterte in aller Ausführlichkeit meine Beweggründe. War natürlich alles aus den Fingern gesogen, aber zu schreiben: Hey, bin einfach verdammt neugierig, wie es dir geht, nachdem du deinen früheren Arbeitgeber in einen neurogenen Schockzustand versetzt hast, weswegen dein bisheriges Leben jetzt leider kopfsteht — das würde gewiss nicht zum Erfolg führen.

Ich ging zum Haus der Familie Relotius, sie haben einen schönen Rosengarten. Das Auto stand nach wie vor in der Einfahrt, darin ein CD-Cover „Punk Rock BRD Volumen 3“ und eine Lederjacke. Ich warf den Brief ein und ging zurück auf die Straße, um zu tun, was ich zu meiner Angewohnheit gemacht hatte: Ich lief erfolglos umher, in der Hoffnung, jemanden zu treffen, der mir etwas über Claas Relotius erzählen wollte und ich schwor mir, nie wieder die Zeugen Jehovas unwirsch abzuweisen, schließlich machen die auch nur, was sie glauben, machen zu müssen.

Am Nachmittag besuchte ich im Nachbarort Nenndorf ein Schützenfest. Würstchenstand, Kinderkarussell, Autoscooter, gebrannte Mandeln, Bier, Blaskapelle. Sehr heimelig. Schön.

Entgegen meiner Hoffnung war aus Tötensen niemand zum Nenndorfer Schützenfest gekommen. Die Nenndorfer erzählten mir, die Tötensener, würden sich in Nenndorf selten blicken lassen, höchstens zum Einkaufen beim Aldi und dm, sonst blieben die Tötensener lieber unter sich. Warum das so ist, wüssten die Nenndorfer selbst nicht. Ich betrank mich mit den Nenndorfern und ging erst zurück nach Tötensen, als es bereits dämmerte.

Um 23.39 Uhr bekam ich folgende E-Mail:

„Lieber Alexander, es besteht kein Interesse an einem Gespräch. Ich bitte Dich, von weiteren persönlichen Versuchen der Kontaktaufnahme in Tötensen, Hamburg oder wo auch immer abzusehen. Danke und Gruß C“.

Am Morgen rief ich Cordt Schnibben an und beschrieb ihm meine missliche Lage. Cordt Schnibben ist sowas wie die graue Eminenz unter den Reportern. Er arbeitete jahrzehntelang beim SPIEGEL und hat den Reporterpreis und das Reporterforum mit ins Leben gerufen.

„Eigentlich sind Sie doch genau in der Relotius-Situation. Sie wollen eine Reportage schreiben und das, was sie suchen, ist nicht da“, sagte er.

„Ja, das bringt es wohl auf den Punkt.“

„Wissen Sie, in den letzten Jahren bin ich oft mit dem Ziel losgefahren, eine Reportage zu schreiben und kam mit was ganz anderem zurück. Das Material reichte nicht für eine Reportage, es kam etwas Spannenderes dabei raus. Gehen Sie in Ihren Kopf, schauen Sie sich das Recherchierte an und klären Sie, für welche Art Text das reicht. Es kann auch ein Essay sein über das Lob des Scheiterns.“

So redete er, und gab mir noch den Rat: „Genießen Sie Ihre Freiheit und befreien Sie sich aus dem narrativen Gefängnis.“

Ich legte mich in mein Hotelbett und versuchte, nachzudenken:

Ich dachte, es ist oft nicht sehr populär, die Dinge zu zeigen, wie sie sind. Relotius wollte die Dinge vermutlich nicht zeigen, wie sie sind, er wollte zeigen, was wir sehen wollen, die Bestätigung unserer Klischees, Vorurteile aber auch Hoffnungen. Darum suchte er, was da draußen nicht zu finden war und erfand es, um uns alle zufriedenzustellen. Das war ihm eigentlich ziemlich gut gelungen. Und dann kommt natürlich noch das Ego ins Spiel, das in jedem von uns dahinwuchert. Jeder möchte in seinem Leben ab und an grandios sein. Relotius wollte auf jeden Fall grandios sein. Relotius, dachte ich, ist einer, der nach Beendigung des Wachstums unbedingt über sich hinauswachsen wollte.

Um mit dem, was ich in meinem Kopf so fand, nicht ganz alleine zu sein, rief ich die Lügenforscherin Anett Kollmann an. Ich hatte von ihr vor ein paar Wochen ein Interview gelesen. Sie hatte ein Buch über Hochstapelei geschrieben, der Titel: „Mit fremden Federn“. Sie erklärte mir, dass Relotius kein typischer Hochstapler sei, sondern eher ein Fälscher, denn er fälsche Dinge und nicht sich als Mensch.

„Und wieso sucht ein Fälscher sich ausgerechnet den Journalismus aus und macht nicht Literatur?“, wollte ich wissen.

„Naja, die Grenzen sind durchaus fließend. Als Journalist hat man zwar die Basis der Tatsachen. Aber dann geht es doch darum, aus diesen Tatsachen etwas zu interpretieren, einen Kontext zu erstellen. Dafür braucht es kreatives Talent.“

„Wäre Relotius mal besser Schriftsteller geworden …“

„Dann hätte er vermutlich viel weniger Erfolg gehabt als mit seinen Reportage. Im Journalismus geht das ja viel schneller mit der Anerkennung. Außerdem spielt der soziale Status eine Rolle.“

„Klingt nach Minderwertigkeitskomplex.“

„Ich bin keine Psychologin, aber einfach schon Aufmerksamkeit haben, Erfolg, sich von anderen zu unterscheiden, darum geht’s doch oft. Aus dieser Reporterschar herausragen. Es geht um Geltung und vielleicht Narzissmus. Ein bisschen narzisstisch sind wir ja alle, und es ist natürlich die Frage, ab wann das pathologisch ist.“

Inzwischen war es Abend. Meine Zeit war um, am nächsten Morgen wollte ich abreisen. Ich beschloss, zum Abschied ein letztes Mal durch Tötensen zu spazieren. Der Wind trieb Männerrufe herüber, sie kamen vom örtlichen Fußballplatz. Ich ging den Rufen entgegen, um ein bisschen zuzuschauen. Die eine Hälfte der Männer, die dort spielten, trug pinke Leibchen über ihren Trikots, die andere Hälfte nicht. Ein Trainingsspiel. Die Jungs lachten, schlugen mit den Händen ab, wenn einer das Tor traf. Ich stand hinter dem Maschendrahtzaun, der den Fußballplatz einzäunte.

Ein Spieler im pinkfarbenen Trikot fiel mir besonders auf. Groß, schlank, blond. Eindeutig nordischer Typ. Er trabte über den Platz, den Kopf gestreckt, ab und zu fielen ihm die blonden Haare ins Gesicht, er trug eine weiße Hose, weiße Schuhe, die Schultern hingen ein bisschen zu tief, nicht gedrückt, eher entspannt. Er spielte locker, forderte den Ball nicht, war konzentriert, beobachtet das Spielgeschehen. Während andere über den Platz Kommandos riefen, blieb er still, trabte über den Rasen, setzte selten zum Sprint an. Es schien ihm nicht um Tore, nicht ums Gewinnen zu gehen. Einfach mit ein paar alten Kumpels kicken. Irgendwann wechselte er mit dem Torwart seiner Mannschaft die Position. Kurz darauf flog ein gut getroffener Schuss an ihm vorbei, es sah nicht so aus, als würde es ihn stören. Ungerührt fischte er den Ball aus dem Netz. Ich ging etwas näher, setzte mich am Spielfeldrand auf eine Bank. Er hatte mich bemerkt. Sah bewusst nicht in meine Richtung. Der Wind ging an diesem Abend, wie an jedem Abend, eisig, die Wolkendecke, tiefgrau, hing dicht über dem dunklen Grün des Felds. Über mir raschelten die herzförmigen Blätter einer Linde.

Das Spiel hatte sich gerade auf die andere Seite des Platzes verlagert, da blickte der große Blonde doch plötzlich in meine Richtung, kam ein paar Schritte auf mich zu, und ich bekam das Gefühl, jetzt aufstehen zu müssen, jetzt was sagen zu müssen, da bleibt er gut zehn Meter vor mir stehen, hebt die Hand, streckt den Zeigefinger in Richtung Wolkendecke und lässt ihn hin und her pendeln, hin und her, und er signalisiert mir, in bester Fußballermanier, wie einem Linienrichter, mit ernstem Blick, mit festem Stand, dass das hier eine Fehlentscheidung sei. Ich sollte gehen. Oder besser: Sofort verschwinden. Die anderen Spieler beobachten uns. Dann drehte sich Claas Relotius um und trabte zurück zu den anderen aufs Feld und das Spiel ging weiter, als sei nichts geschehen. So war‘s ja auch.

III.

Ein paar Tage später meldete sich tatsächlich doch noch jemand auf meine vielen Telefonate und E-Mails. Eine ehemalige Kommilitonin von Claas Relotius. Sie hatte gemeinsam mit Relotius an der Hamburg Media School studiert.

Sie erzählte mir, dass Relotius während seines Studiums nicht gerade zu den beliebtesten Studenten gehört hatte. Seine Texte seien schon damals die Besten gewesen. Aus Gruppenarbeiten habe er sich lieber rausgehalten. In Vorlesungen sei er gern zu spät oder gar nicht gekommen. Für seine Reportagen aber habe er viel Lob von den Professoren bekommen, zum Neid der anderen. „Ich kann mir vorstellen, dass sich manche darüber gefreut haben, als das rauskam, mit den gefälschten Reportagen“, sagte die Kommilitonin mir am Telefon. Sie selbst habe ihn immer als freundlich und zurückhaltend erlebt. Dass er ein Betrüger, Hochstapler, Fälscher sei, das hätte sie sich niemals vorstellen können. Das habe niemand geahnt. Und sie hoffe, dass es ihm jetzt gut gehe, dass er zurück ins Leben finde, in ein neues Leben. Ich erzählte der Kommilitonin am Telefon nicht, dass ich Relotius erst vor kurzem gesehen hatte, wie er in Tötensen mit seinen Freunden Fußball gespielt hatte, und zwar eher im Stile von Sebastian Schweinsteiger als Christiano Ronaldo. Stattdessen ätzte ich noch ein paar Minuten mit ihr über die Journalisten-Branche im Allgemeinen, dann legte ich auf.

Ich dachte nach. Eine Existenz, zu der man sich voll und ganz bekennt, das ist so eine Lebensaufgabe. Man selbst sein können, gegenüber sich selbst, gegenüber der Außenwelt. Selbstvertrauen, sich selbst vertrauen. In den Spiegel blicken, Menschen entgegensehen, solchen, die man liebt, und solchen, die einem fremd sind, sagen können: „Das bin ich, und besser wird’s nicht“ — das ist ein Leben innerhalb der eigenen Lebensrealität. Alles andere ist Theater. Wir spielen es andauernd. Dieses Spiel macht unsere Persönlichkeit aus. Wir können wählen, wer wir sein wollen -in jeder Situation aufs Neue. Relotius hatte sich entschieden, so wenig wie möglich er selbst sein zu wollen, bis er sich ganz verloren hatte. Ein Fall ins Nichts. Und der Reportage-Journalismus? Welche Rolle will er in Zukunft spielen?

Die Illustrationen stammen von Thomas Kuhlenbeck. Er arbeitet unter anderem für Der Spiegel, Der Stern, Forbes, Time Magazine, Die Zeit, Die Welt.