Ausschreibung: Anthologie „Erzähljournalismus der Gegenwart“

Einst galt sie als Königsdisziplin des Journalismus, dann wurde sie dank SPIEGEL-Skandal geschmäht und schließlich in ein redaktionelles Korsett aus formalen Vorgaben und inhaltlichen Einschränkungen gezwängt. Doch wir finden: Die Reportage könnte nach wie vor der Brückenschlag zwischen Journalismus und Literatur sein – so wie in anderen Sprachen üblich.Eine Form, in der Wirklichkeit und Fakten durch literarische Mittel destilliert werden – bis daraus echte Leseerfahrung entsteht. Wozu braucht es sonst noch lange Erzähltexte, wenn es Podcasts, Doku-Serien und YouTube gibt? Nur eine Reportage, die die Möglichkeiten des geschriebenen Wortes ausschöpft, hat bei der Medienkonkurrenz der Gegenwart eine Daseinsberechtigung . Zum Glück erscheinen nach wie vor Texte von Reportern und Reporterinnen, die sich zu engen Vorgaben widersetzen. Reportagen, die eigen klingen, individuell, genauso wie die wahren Geschichten, die sie erzählen. Die eine Form wagen, die der beschriebenen Wirklichkeit gerecht wird – statt in den immergleichen, abgeklärten Reportersound zu verfallen. Hin und wieder tauchen sie dann doch noch in den Printmedien auf. Und genau solche Texte suchen wir!Aber das hier ist kein Aufruf für den hundertsten Journalistenpreis. Wir wollen vielmehr gemeinsam mit euch die Vielfalt und das Potenzial dieser Gattung ausloten. Darum planen wir eine Anthologie mit Reportagen, die in ihrer Form bewusst gestaltet sind. Texte, die eigenwillig klingen, Charakter zeigen – und gerade dadurch der Wirklichkeit näher kommen.Aus allen Einsendungen wählen wir eine möglichst große Bandbreite aus. Doch es wird keine Gewinner geben, keine Pokale, keine Siegerfotos. Wir wollen die Form feiern, die Vielfältigkeit des Erzähljournalismus.Zur Veröffentlichung der gemeinsam entstandenen Anthologie organisieren wir stattdessen eine kleine Feier, zu der alle herzlich eingeladen sein werden. Konkreter heißt das, wir suchen ab jetzt alles außer:• Reportagen, die nach szenischem Einstieg im dritten Absatz ein Portal stehen haben.• Reportagen, die echte Menschen auf zwei bis drei Äußerlichkeiten reduzieren, statt in Lebenswirklichkeiten einzutauchen.• Reportagen, die in starren Dramaturgien verharren.• Reportagen, die klingen, als hätte man ChatGPT gebeten, eine Reportage zu schreiben.• Reportagen, die sich in immergleichen Erzählmustern verfangen. Wenn dir jetzt eine eigenwillige (literarische) Reportage einfällt, die 2020 oder später erschienen ist, schreibe uns bitte an info@hermes-baby.de. Einfach den Text als Datei oder Link. Im besten Fall noch ein-zwei Sätze, warum du diesen Text einreichst. Eigenbewerbungen sind ausdrücklich erwünscht. Sollte der Text nicht von dir stammen, werden wir natürlich mit den Autoren und Autorinnen in Kontakt treten, falls wir uns für eine Veröffentlichung entscheiden. Danke dir für deine Unterstützung bei diesem Projekt! Deine Hermes Babys

Eine verlorene Ewigkeit

Seit 15 Jahren suchen Mandys Eltern nach ihrer verschwundenen Tochter. Doch als sie der Wahrheit endlich näherkommen, fallen Schüsse vor ihrer Haustür. Der Kampf um Gewissheit eskaliert Erschienen in ZEIT Verbrechen, Juli 2024 / Fotos: Mario Wezel Sie hat die Satinvorhänge vor die Fenster gezogen. Die Außenwelt soll ihr fernbleiben, sie ist ihr längst zur Bedrohung geworden. Sabine sitzt am Esstisch, hat die vom Rheuma schmerzende Hand in den Schoß gelegt. Die andere führt die Zigarette an ihre Lippen für den nächsten gedankenlosen Zug. Von Dutzenden Fotos an den Wänden blicken die Vorfahren auf sie herab. Einst war Sabine eine stolze Sinteza, zog mit ihren Eltern im Wohnwagen von Ort zu Ort. Schriller Jahrmarkttrubel und die klebrigen Massen der Menschen. Doch seit 15 Jahren ist sie nur mehr die Mutter eines abhandengekommenen Kindes. Nichts zermartert einen so sehr wie die Ungewissheit. Es war das Jahr 1988, Sabine 23 Jahre alt, als sie den zwei Jahre jüngeren Richard heiratete. Ein stiller, freundlicher Mann, der beim Sprechen manchmal verlegen lächelt. Im Jahr darauf, am ersten Weihnachtstag, brachte sie ihre Tochter Mandy zur Welt. Sechs Jahre später ihren Sohn. Sabine und Richard wurden sesshaft, zogen aus dem Wohnwagen schließlich in ein Haus in Niedersachsen. Mandy trat in der Mini Playback Show auf. Sie sang Destiny von Jennifer Rush; sie hatte Sommersprossen im Gesicht und trug lange, lockige schwarze Haare. Im Fernsehstudio sagte ein kleiner Elvis Presley zu ihr, sie sei die schönste Frau der Welt. Als Mandy älter wurde, bemerkte sie, dass sie bei den Jungs gut ankam. Sie schrieb mit manchen von ihnen E-Mails, sinti- prinzessin@hotmail.com, traf sie heimlich. Nachdem Mandy ihren Realschulabschluss bestanden hatte, begann sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau im Mercedes- Autohaus. Dann lernte sie diesen Jungen kennen. Sein Name kommt Sabine heute nicht mehr über die Lippen. […] Der ganze Text in ZEIT Verbrechen, Ausgabe 27

Hoffnung in Berlin

Christian möchte einfach nur der Armut entkommen. Chronik eines Lebens zwischen Missbrauch, Drogen, illegalen Kryptomillionen – und dem Kampf um den eigenen Sohn Erschienen in ZEIT Verbrechen, Oktober 2023 / Fotos: Nikita Teryoshin Christians Problem, immer schon: Er ist auf der Suche und weiß nicht, wonach.  Der 27. November 2003 – morgen wird Christian 14.  Er sitzt im silbernen Renault Twingo vom schwulen Hans. Das perverse Schwein wollte ihn nach Hause fahren, dabei liegt das Café Chaplin, das ihm gehört, nur ein paar Straßen entfernt, schräg gegenüber der Feuerwehr. Vorbei an der Polizei. Vorbei am Friedhof, links vorbei an den vielen kleinen Spitzgiebelhäuschen, bis dann, ziemlich unvermittelt, drei wuchtige Wohnblocks auftauchen. Ganz gierige Glupschaugen hat der schwule Hans. Sie könnten ihm aus den Höhlen flutschen, wenn er sich nur vorbeugt. Christian und die anderen Jungs sitzen oft im Café Chaplin, immer in derselben Nische, abseits der übrigen Gäste. Der schwule Hans, so nennen ihn alle hier, spendiert ihnen dann Pizza und Fanta. Ständig läuft Heal the Worldvon Michael Jackson. Er wohnt in einer Kellerwohnung unterm Café, zusammen mit Mausi, der Katze, und einer stadtbekannten Playboy-Sammlung. Originale aus Amerika.  Zur Feier von Christians großem Tag morgen hatte der schwule Hans gefragt, welchen Cocktail er trinken wolle. Der süß-cremige Geschmack der Piña Colada überraschte Christian, als käme das Glas in seiner Hand geradewegs von einer entlegenen Tropeninsel. Ein paar Schlucke später spürte er eine wohlige Wärme. […] Der ganze Text hier oder in ZEIT Verbrechen, Ausgabe 22

Atme, Bruder!

Nach einer illegalen Silikoninjektion liegt Martin im Sterben. Seine Schwester nimmt den Kampf auf – gegen Tod und Täter Erschienen in ZEIT Verbrechen, Oktober 2022 / Fotos: Neven Allgeier Seit Stunden fließt der Atem schwerer.Der Körper ist sein Käfig.Noch 213 Tage Leben. Auf dem Ledersessel im Wohnzimmer des elterlichen Bauernhäuschens hockt Martin, tippt auf dem Handy rum und klagt der Familie, dass er sich krank fühle. Der Kreislauf. Daniela, die 25-jährige Schwester, wundert sich über sein so anfälliges Immunsystem. Sie wünscht ihm gute Besserung und fährt ins Büro, der Vater zu seiner Sparkasse, die Mutter macht sich an den Haushalt. Es ist Freitagmorgen, der 26. Juli 2019. Seit Tagen trocknet das Land unter dem stickigen Sommer aus. Martin bleibt auf dem Ledersessel zurück. Noch drei Wochen, dann fängt er seine neue Stelle als Busfahrer an. Er kann es kaum erwarten. Vor einiger Zeit hatte Martin mal ein ausrangiertes Feuerwehrauto, ein Löschfahrzeug, Iveco-Magirus 120-25, 256 PS auf 12,7 Liter Hubraum, Unterhalts- und Benzinkosten unbezahlbar. Davor fuhr er einen olivgrünen riesigen Mercedes Vario, den er mit Hunderten Aufklebern beklebt hatte: »Klar bist du schneller, aber ich bin vor dir«. Die Bärentatze der Bear-Community, Regenbogenflaggen. Seine Eltern erzählen gerne jedem, wie sich am Tag, an dem er den Wagen das erste Mal vor dem Bauernhaus parkte, das Wohnzimmer verdunkelt habe. Bei seinem alten Job, Buslinie 60 ist er gefahren, hatten die Schulkinder ihm am letzten Tag Geschenke und Süßigkeiten mitgebracht. Martin war immer gut mit ihnen klargekommen. Er kündigte nur, weil der Chef nicht mehr richtig zahlte. Gerade in diesem Moment geht die innere Zerstörung längst vor sich. Mit jedem Schlag, den Martins Herz tut, fließen durch den Blutstrom seiner Venen unbemerkt kleinste Silikontröpfchen. Ungestört passieren sie das Herz und bewegen sich weiter zur Lunge, doch dort ist der Fremdstoff allmählich zu groß für die immer feiner werdenden Blutgefäße. Die Tröpfchen ver- stopfen sie und lagern sich dort ein. Mit jeder Stunde nimmt Martins Lunge weniger Sauerstoff in den Körper auf. Atemnot. Am Abend fährt er ins örtliche Krankenhaus. Computertomografie des Thorax: Bei Verdacht auf atypische Pneumonie zeigt sich ein ungewöhnlicher Befall der Lungen. Weiß wie eine Qualle im Ozean leuchtet […] Der ganze Text in ZEIT Verbrechen, Ausgabe 17

Wir übernehmen die Reporter-Akademie

Vor über zwei Jahren hat sich Hermes Baby mit der Mission gegründet, einen zeitgemäßen Erzähljournalismus in Deutschland zu fördern. Denn dass Geschichten in der Lage sind, Erkenntnisse zu vermitteln, die dem rein Faktischen verschlossen bleiben, ist unsere tiefe Überzeugung.Seitdem ist viel passiert – und eigentlich ist es ein Wunder, dass wir noch existieren, trotz Corona und trotz immer schlechteren Bedingungen für Freie Journalisten. Doch in den letzten Monaten haben wir neue Mitglieder dazugewonnen, Veranstaltungen und Lesungen organisiert und arbeiten inzwischen vertrauensvoll mit inspirierenden Journalisten und Journalistinnen in unterschiedlichsten Redaktionen zusammen, die unsere Version eines zeitgemäßen Erzählens schätzen gelernt haben. Dabei verging allerdings kaum ein Tag, an dem wir uns nicht auch gefragt haben, wie wir integrativer werden könnten. Denn zeitgemäßes Erzählen ist nichts, was wir exklusiv für uns beanspruchen wollen. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Vision, die wir mit der gesamten Branche teilen möchten. Die Reporter-Akademie wird hierfür der ideale Ort sein. Warum aber übergibt Michael Obert die Reporter-Akademie überhaupt an Hermes Baby?Michael gilt bis heute als einer der renommiertesten Reporter des Landes. Inzwischen aber hat sich sein eigener beruflicher Schwerpunkt zunehmend in den Coaching-Bereich verschoben. Zu den Gründen, warum Michael sich bei der Suche nach einem Nachfolger unter mehreren Interessenten am Ende ausgerechnet für Hermes Baby entschieden hat, sagt er selbst: „Die meisten Autorinnen und Autoren bei Hermes Baby kenne ich persönlich von Workshops oder von unterschiedlichen Journalistenschulen. Die große Schnittmenge mit der Akademie im Bereich ‚Erzähljournalismus‘ ist offensichtlich. Außerdem braucht die Akademie, die ja einem sehr praktischen Ansatz folgt, ein Leitungsteam, das nah am journalistischen Tagesgeschäft dran ist. Da war es naheliegend, die Nachfolge auch gleich mit einem Generationenwechsel zu verbinden.“ Als Schirmherr und Impulsgeber wird Michael der Akademie erhalten bleiben. Von Gründung an war es Michaels Wunsch, mit der Reporter-Akademie sowohl Qualitätsjournalismus als auch demokratische Werte zu stärken. Entsprechend glücklich sind wir, diese Idee fortführen zu dürfen. Zugleich geht mit der Übernahme der Reporter-Akademie eine große Verantwortung einher: Eine solche Fortbildungsstätte ist nur so gut, wie die Menschen, die ihr Leben einhauchen. Wir betrachten die Akademie deshalb auch als Ideenwerkstatt: Neben der Vermittlung geht es uns darum, gemeinsam an Geschichten zu drehen und Ideen des Erzählens weiterzuentwickeln. Hast Du Anregungen, Wünsche oder Kritik würden wir uns darum freuen, wenn Du Dich bei uns meldest. Denn in den kommenden Wochen sind wir es, die von Dir lernen wollen, um den Kosmos Reporter-Akademie noch besser zu verstehen. Was ändert sich nun konkret?Eine Neuerung gibt es bereits: Wir überführen die Akademie gerade in einen gemeinnützigen Verein. Damit wollen wir unserem Anspruch gerecht werden, einen Beitrag für das demokratische Gemeinwesen zu leisten, indem wir das Stipendienprogramm deutlich ausbauen werden. Ansonsten bleibt in diesem Jahr des Übergangs vieles beim Alten: Vom 13. bis 15. September wird Michael Obert noch einmal seine beliebte Masterclass Reportage anbieten (anmelden kannst Du Dich hier). Von 17. bis 18. September findet das Seminar “Gut leben als freie/r Journalist/in” zum ersten Mal mit Katharina Jakob statt (hier geht’s zur Anmeldung). Dank unseres Partners Amnesty International stehen uns zwei Stipendien zur Verfügung, die eine kostenlose Teilnahme an beiden Seminaren ermöglichen (bewerben kann man sich hier). Wir von Hermes Baby arbeiten währenddessen im Hintergrund: Wir kümmern uns um die Vorbereitung und Durchführung der Seminare und feilen bereits an neuen, spannenden Kurskonzepten für die kommenden Jahre. Die brandneue Website der Reporter-Akademie gibt es unter: www.reporter-akademie.de

Obsession

Er sieht in ihr die Frau des Lebens. Sie will überhaupt nichts mit ihm zu tun haben. Eine wahnhafte Tragödie nimmt ihren Lauf. Erschienen in DIE ZEIT, März 2021 / Illustration: Thomke Meyer Der Junge traf das Mädchen in einer Gegend, in der vor allem die Hoffnung wohnt, eines Tages von hier wegziehen zu können. Er traf sie auf einer kargen Betonfläche im Hamburger Süden, die Bewohner ihren „Dorfplatz“ nennen. Oft lungert hier endlos lange eine Gruppe jugendlicher Kiffer an den Sitzbänken herum. Einer von ihnen ist Mustafa D. Gerade läuft er auf ein Mädchen zu, das ihn noch gar nicht wahrgenommen hat. Schon eine Zeit lang hat er beobachtet, wie sie neuerdings täglich über den Dorfplatz spaziert. Er hat keine Ahnung, wo sie plötzlich hergekommen ist. Ihr Gesicht, das sie mit einem straff gebundenen Kopftuch umrahmt, macht einen hellen, freundlichen Eindruck, und außerdem ist es gerade Frühling geworden, März. Er holt sie ein, passt sie ab, sagt mutig zu ihr so was wie: Hey, hey! Wie heißt du? Ich find dich voll hübsch. Kann ich deine Nummer haben? Aysun (Name geändert) bleibt stehen. Der Kerl kommt ihr seltsam vor. Er ist groß, ziemlich schlaksig. Sein Gesicht unrasiert. Er hat etwas Ungepflegtes an sich, ohne dass sie genau festmachen könnte, woran es liegt. Seine Art vielleicht? Ganz allgemein wirkt er jedenfalls sonderbar unterwürfig und hat dabei einen verschlagenen Blick. Gleichwohl will Aysun freundlich bleiben. Sie nutzt die Ausrede, die man von einer streng erzogenen Muslimin erwarten könnte: Ich kann dir meine Nummer nicht geben, du musst erst mal mit meinen Eltern sprechen. Aber Mustafa lässt nicht locker, verwickelt sie ungelenk in ein Gespräch, so erinnern das beide später. Aysun kommt gerade von ihrem Praktikum bei einer Ärztin. Sie ist 17. Nach dem Abi will sie Medizin studieren. Sie fragt den Jungen, ob er auch aufs Gymnasium geht. Er behauptet, seinen Realschulabschluss längst in der Tasche zu haben, was glatt gelogen ist. Die Schule hat er in der Achten geschmissen. Inzwischen ist er 23. Er hatte einfach nicht begriffen, dass man ein Zeugnis braucht, um einen Job zu finden. Seine türkischen Eltern hatten vom deutschen Bildungssystem keine Ahnung. Und so lungert er auf dem Dorfplatz rum, treibt durch die Tage, Wochen, Monate seiner müden Existenz. Wo das enden soll? Bis gerade wusste er das auch nicht. Aber jetzt steht immerhin dieses wunderbare Mädchen vor ihm. Das soll was ändern! […] Der ganze Text in DIE ZEIT oder hier.

Und zwischen ihnen steht ihr achtjähriges Kind

Ein Vater und eine Mutter streiten um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter. So wie jedes Jahr Zehntausende Eltern in Deutschland. Doch dann geht es plötzlich um Vergewaltigung, Mord und eine Entführung. Erschienen in DIE ZEIT, Februar 2021 / Illustration:  Eleanor Taylor Martin Koch* sitzt auf einer leeren Hotelterrasse in Rijeka, Kroatien. Vor ihm glitzert das Meer im Sonnenuntergang. Wellen platschen gegen die Klippen, ein Frachtschiff gleitet vorüber, in den dürren Ästen eines Busches klettert ein Kätzchen. Martin Koch hat dafür keinen Blick. Er zieht an einer Zigarette, wohl der dreißigsten heute. Er ist nach Kroatien gekommen, um endlich, nach vier Jahren des Vermissens, seine kleine Tochter in die Arme zu schließen.  Dann beginnt er, von der Frau zu erzählen, die ihm erst den Atem und dann das gemeinsame Kind raubte. Von der Frau, die ihm einen Mord anhängen wollte. Der Frau, die ihn einen Kindesvergewaltiger nannte.  So sagt er das.  Zur selben Zeit, nur ein paar Kilometer weiter, kauert Sandra Busch auf der Pritsche einer engen Gefängniszelle. Es stinkt nach Kot. Eine Mitinsassin hat einen künstlichen Darmausgang und bräuchte dringend einen Arzt, aber das scheint hier niemanden zu interessieren. Sandra Busch ist mit ihrer Tochter nach Kroatien gekommen, um sie vor ihrem Vater zu schützen. Dem Mann, der sein eigenes Kind vergewaltigt hat. Der dafür gesorgt hat, dass die Polizei ihr einfach die Kleine wegnahm. Und der ihre ältere Tochter umgebracht hat. So sagt sie das. […] Der ganze Text in DIE ZEIT oder hier.

Im Netz der Lügen

Der 36-jährige Ralf Witte wird eines Morgens von der Polizei aus dem Bett geholt und verhaftet. Er soll ein junges Mädchen mehrfach grausam vergewaltigt und schwer verletzt haben. Doch Witte ist sich keiner Schuld bewusst. Für ihn beginnt ein Albtraum. Erschienen in ZEIT Verbechen, März 2021 / Foto: Rafael Heygster Ein Mädchen öffnet sein Tagebuch. Es bekam das Buch von der Englischlehrerin geschenkt. Dort soll es alle Dinge hineinschreiben, die es bekümmern. Das Mädchen nimmt einen Filzstift und schreibt: Ich packe es nicht mehr. Manchmal wünsche ich mir, dass ich tot bin, einfach weg bin, meine Ruhe habe, vergessen und einfach frei zu sein. Aber auch ich werde sie später alle fertig machen, einen nach dem anderen. So schnell werden die mich nicht los, so schnell nicht. Es ist aber so schwer und es tut weh zu leben, so vieles, was alles schon passiert ist, wo soll das hinführen, ich will nicht mehr die Hure von Papa sein. Draußen läuft noch alles in geregelten Bahnen. Früh ist es, fünf Uhr, halb sechs. Der Schienenschleifwagen fährt über die sich durchs Straßennetz ziehenden Gleise. Im Inneren drückt der Kompressor mit Tonnengewicht die Schleifsteine gen Boden. Sie kratzen über Schienen, Wasser spritzt aus Düsen, nimmt dem Eisen die Hitze. Vorn, in der Fahrerkabine, sitzt Ralf Witte. Er ist 36 Jahre alt. Seine Schicht geht gerade zu Ende. Er lenkt den Schienenschleifwagen in die Thurnithistraße, fährt in den Betriebshof, stellt den Wagen ab. Er nimmt seine Thermoskanne und geht zu seinem Auto. Es ist der 16. Mai 2001. Daheim legt er sich neben Kerstin und schläft ein. Für eine Stunde liegt das Ehepaar so beisammen, bis Kerstin aus dem Schlafzimmer schleicht, um Simon, ihren kleinen Jungen, zu wecken. Sie macht Frühstück, fährt ihn in den Kindergarten, kehrt zurück. Um zehn Uhr klingelt es an der Tür des Reihenhauses. Zwei Männer, Polizei. Ob ihr Mann zu sprechen sei? Der schläft, Nachtschicht. Ob sie ihn bitte wecken könnte? „Ralf, komm mal, da sind zwei Männer von der Polizei, die wollen irgendwas von dir.“ Ein neues Spielchen seiner Exfrau, denkt Witte verschlafen. Seitdem sie in eine Sekte geraten ist, macht sie Theater. Aber die Kriminalbeamten wollen was anderes: „Kennen Sie eine Jennifer?“ Witte nickt. „Unser Kindermädchen.“ Der Beamte sagt: „Die war gestern bei uns auf der Wache. Sie hat Sie angezeigt, wegen Vergewaltigung.“ […] Der ganze Text im Heft 9 von ZEIT Verbrechen oder hier.

Kann euch doch egal sein

Ein 16-Jähriger sticht die Freundin nieder und kommt in die Psychiatrie. Nach zehn Jahren kommt er raus und bleibt alleine mit seinen Dämonen. Erschienen in DIE ZEIT, Dezember 2020 / Illustration: Karlotta Freier Celina will Markus ein Kuscheltier kaufen, seit zwei Wochen ist sie wieder seine Freundin. Er hat ihr geschworen, sie nicht mehr zu boxen. Sie ist seine große Liebe. Darum war er schon mal mit ihr verlobt, aber dann hat sie den Ring weggeworfen, und jetzt darf Markus sie eigentlich gar nicht mehr sehen. Celinas Eltern haben es verboten und das Gericht auch. Einstweilige Verfügung. Er schlendert mit ihr durchs Oder-Center, am New Yorker vorbei, an der schwarzen Spitzenunterwäsche von Hunkemöller. Die Kaufhausmusik säuselt schön ins Ohr. Lauter kleine Weihnachtsbäume stehen herum. 2. Dezember 2009. Markus trägt seine neue Jacke mit dem Fellkragen offen. Celina nölt ein bisschen wegen seiner großen Pupillen. Vorhin hat sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf verpasst. Aber das ist egal. Die Amphetamine wärmen von innen und machen schön ruhig, sie wirken genau andersrum als bei anderen Menschen, das liegt wohl an seinem ADHS. Irgendwann stehen sie im Nanu-Nana, wo er sich das Kuscheltier aussuchen soll. Er hat keinen Bock darauf. Er ist sechzehn. Sie hält ihm Teddybären vor die Nase. Irgendwas beginnt in ihm zu kribbeln. Er will hier weg. Er boxt Celina gegen die Schulter. Gleich fängt sie wieder an rumzuheulen. Die Verkäuferin erklärt, dass Männer keine Kuscheltiere mögen. Da hat sie recht. Die Verkäuferin sagt, Celina solle ihm lieber was anderes kaufen, und das findet er auch. Vor der Ladentür umarmt sie ihn plötzlich, will ihn offenbar beruhigen. Aber sie schreckt gleich wieder zurück. „Was ist denn ditte“, fragt sie und zeigt auf seine rechte Jackentasche. Sie weiß genau, was das ist. Es ist das Küchenmesser, er trägt es immer bei sich. Das muss so sein. Er ist jetzt Schuldeneintreiber der Halbwelt. Für eine Ohrfeige bekommt er 100 Euro oder 150. In Schwedt wissen die anderen Jungs längst, wer sich mit dem Markus anlegt, hat ein Problem. Du musst kränker sein als die anderen, dann haben sie Respekt. Darum das Messer. Aber Celina macht Aufstand. […] Der ganze Text in der gedruckten Ausgabe der ZEIT vom 23. Dezmeber oder hier.

Corona Roadtrip

Alexander und Lotta kommen zusammen – dann kommt Corona. Die beiden beschließen abzuhauen und reisen mit einem VW-Bus quer durch Deutschland. Dabei lernen sie ein Land im Ausnahmezustand kennen. Erschienen in stern.de, 27.4.2020 / Foto: Enno Kapitza Ein Donnerstag Mitte März 2020 und wir sitzen im Eldorado. Zweiter Wodka-Soda. Zweites Astra. Die Gespräche der Gäste kreisen um die Corona-Pandemie. Wir können das Wort „Ausgangssperre“ nicht überhören. Bislang nur eine Empfehlung, klar, kommt uns aber schon jetzt ziemlich ungelegen. Wir wollten „es“ nämlich „versuchen“. Das hatten sie und ich vor drei Tagen beschlossen. Im Saal II, einer anderen Bar. Mit „Es“ ist eine echte Beziehung gemeint und mit „versuchen“ eine solche zu führen. Sie heißt Lotta. Sie hat rotes Haar. Ich steh total auf ihre Haare! Ich mag auch, wie sie lacht. Bis ich Lotta kennenlernte, war ich überzeugt, wer zu oft laut lacht, meint es mit seiner Freude nicht ernst. Aber Lotta lacht viel und laut und es klingt immer ehrlich. Dass wir „es“ früher oder später „versuchen“ wollen, wussten wir eigentlich seit unserer ersten Begegnung vor drei Wochen – auch im Eldorado. Nachdem wir uns eine halbe Stunde unterhalten hatten, bat sie mich, einmal aufzustehen. Sie müsse wissen, wie groß ich sei. Sie musterte mich. „Nein, das passt gut“, sagte sie. Ich glaube, sie schätzte damals ab, ob sie mich bequem küssen könne, wenn sie sich auf Zehenspitzen stellt. Ich nehme einen Schluck vom Wodka-Soda, ich sage, eigentlich sollten wir uns nicht länger treffen. Wäre besser für uns. Nicht in der Öffentlichkeit. Laut Internet sind zu diesem Zeitpunkt in Deutschland knapp 8000 Menschen an Covid-19 erkrankt und 12 gestorben. Lotta nickt. Ich glaube, sie nickt vor allem das Wort „eigentlich“ ab. Wie soll das funktionieren, eine Drei-Tage-Beziehung ohne Sicht-und-sonst-wie-Kontakt? Ich sage: „Oder wir hauen ab! Raus aus der Großstadt. Auf dem Land da wäre man sicherer. Da muss man im Radius von hundert Metern niemanden sehen.“ Lotta führt die Astra-Flasche an den Mund. Sie sieht an mir vorbei. Vielleicht versteht sie nicht, was ich sagen will. „Lass uns weg von hier. So schnell wie möglich. Einfach davon.“ Sie lacht auf. Jaja, großartig. Und wo wollen wir schlafen? „Im Bus! Wir mieten uns einen Bus, einen Camper, oder wie die Dinger heißen, und den stellen wir auf Wiesen und Felder.“ Lotta schaut immer noch etwas skeptisch. Auch für meinen Job sei das super, sage ich. Ich schreibe ein Porträt über Deutschland in Zeiten der Corona-Krise. Keine Corona-Pressekonferenzen mehr, keine Live-Ticker, sondern echtes Leben, das muss schließlich auch irgendwie weitergehen. Was machen die Menschen aus Angst vor der unsichtbaren Bedrohung? Was nicht? Da strahlt Lotta endlich und nimmt meine Hand. „Ja!“, ruft sie und lacht. „Ja, das machen wir!“ Dann küsst sie mich. […] Gesamter Text online auf stern.de

Der Schwachsinn der Metaebene

Journalisten behaupten, eine gute Reportage brauche eine Metaebene. Unser Autor Alexander Rupflin aber glaubt, eine Geschichte muss vor allem destilliert werden, um eine menschliche Wahrheit auszudrücken. Und Georg Büchner schrieb: „Geht einmal euern Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“ – Vorletztes Weihnachten sagten sie mir, die Reportage sei eine Erfindung. Das war hart. Das war die Zeit des großen „Fall Relotius“, da geriet die ganze Gattung in Verdacht, ein paar Journalisten erklärten, aus so einem Art Apocalypse-Now-Gefühl heraus, die Reportage sei ja nichts anders als eine Kurzgeschichte mit Wirklichkeitsbehauptung. Und dabei fanden sie für ihre Anklage auch noch ziemlich gute Belege. Umso länger ich darüber nachdachte, umso richtiger fand ich den Eindruck der Dramaturgie-Nihilisten, Reportagen sind häufig Kitsch – aber das liegt nicht an der Gattung, sondern an der Forderung nach „Metaebenen“. Vorab will ich kurz deutlich machen: Die Reportage zeigt nur einen Ausschnitt, einen Schnappschuss. Es ist nicht ihre Aufgabe, ein Ganzes zu präsentieren. Es geht nicht darum, vollständig zu berichten oder den totalen Blick auf etwas zu gewähren. Es geht – wie es Gotthold Ephraim Lessing so schön zur Sprache bringt – um den „Fruchtbaren Augenblick“. Dieser Fruchtbare Augenblick ist der Moment des Besonderen, der das Allgemeine darstellt. Ähnlich wie ein Foto, ein Gemälde, die griechische Plastik. Es zeigt einen Ausschnitt, der über sich als Moment hinaus geht und zugleich zurückverweist. Dadurch wird dem Leser der Reportage ein Phänomen symbolisch schaubar und im Idealfall sogar begreifbar. Die Redaktionen wissen um die Macht der Metaebene Was ich damit meine: Reportagen können komplexe Zusammenhänge weder erläutern noch erklären, aber sie können als Schlaglicht einen Moment der Vergangenheit erhellen. Das geschieht durch „vollkommene Unmittelbarkeit“ wie Siegfried Kracauer über die (Reportage-)Fotografie schrieb. Dadurch erweckt die Reportage einen bereits verklungenen Moment der Wirklichkeit im Inneren des Lesers noch einmal zum Leben – und lässt den Leser damit, zumindest mittelbar erleben. Wiederum das führt zur Selbstwahrnehmung und wir als Leser werden bewusst in Bezug zur Welt und dessen Geschehen gesetzt. Mit der Fantasie des Lesers, seines individuellen Wissens und seiner Interpretationsfähigkeit, erweitert sich durch die Reportage dessen Kosmos. Die Redaktionen wissen um diese Macht und versuchen deren Kraft einzusetzen, indem sie für die Reportage von uns Autoren eine „Metaebene“ fordern. Eine Metaebene im Journalismus bedeutet in etwa, eine allgemeingültige Aussage, die über der konkreten Geschichte, dem beschriebenen Einzelfall steht, und dem Leser implizit mitgegeben wird. Wenn ich früher Journalisten nach einer exakten Definition der Metaebene gefragt habe, bekam ich nie eine klare Antwort. Der Grund ist vermutlich, weil es keine natürliche Metaebene gibt. Bei Metaebenen klingt der Mythos der Reportage an Ich will es für diesen Text einmal selbst versuchen: Die Metaebene meint die Reflexionsebene, sie ist nicht die Ebene des Themas. Mittelbar nimmt der Text auf dieser Ebene auf sich selbst Bezug. (Zu offensichtlich geschieht das manchmal mit Phrasen wie „Das ist eine Geschichte über …“) Auf der Metaebene klingt etwas an, das ich als „Mythos“ bezeichne: Das Grundlegende, die innerste Bedeutung des Erzählten, einer Wahrheit die tiefer liegt, als das rein Faktische. Etwas, das nicht durch Studien belegt wird. Hier betreibt der Autor Weltdeutung und wird unter Umständen allegorisch. Es ist der Mythos, der durchs Denken einer Metaebene der Reportage eingehaucht werden soll. Ich fürchte aber, dass genau diese Denkweise ihr Ziel verfehlt und statt die Wahrheit eines menschlichen Mythos zu formulieren, Klischees produziert. Klar, reine Erlebnisse haben zuerst keine Metaebene, weil natürlich nichts geschieht als ein Symbol für etwas Allgemeingültiges. Also wird die Metaebene in aller Regel künstlich am Schreibtisch oder in der Redaktionskonferenz entworfen – auch, bevor die Recherche begonnen hat. Es sind Ideen, Interpretationen, Vorurteile. Klassische Stereotypen, Denkmuster und Erwartungen – sie müssen im Anschluss der Wirklichkeitsprüfung von uns Reportern standhalten. Im übelsten Fall kommen dadurch die Reportagen zustande, deren Verlauf ich schon kenne, sobald ich den Teaser gelesen habe. Das klingt zunächst nach einer allgemeinen Kritik an mangelnder Textqualität, die wiederum vom genauen Ausloten der Zu- und Umstände abhängt. Aber mir fallen diese vorhersehbaren Geschichten ausgerechnet bei den ganz großen Magazinen auf. Und natürlich, Erfolg gibt deren Redaktion recht. Die Denkweise in sogenannten Metaebenen, die in Wahrheit weniger Ebenen, als vielmehr Schubladen sind (warum genau, dazu später), entspricht unseren plakativen Lesererwartungen. Als Leser wollen wir keine allzu großen Überraschungen, es darf ein paar Wendungen und Drehungen geben, um Spannung zu erzeugen, ob wir mit unseren Erwartungen auch wirklich richtig liegen, aber am Ende muss die Geschichte doch so gebaut sein, dass sie uns als Leser befriedigt. Zumindest, wenn man als Macher dieser Geschichten kommerziellen Erfolg haben möchte – und Redaktionen brauchen kommerziellen Erfolg. Die gute Reportage ist immer auch Selbstbetrug Der Grund für das Gelingen dieser Masche ist unsere Hoffnung als Rezipienten eines Mediums, durch dieses uns die Welt begreifbarer zu machen, rational und beurteilbar. Darum braucht eine Geschichte, die wir als positiv empfinden, eine innere Kausalität – ganz anders als die Wirklichkeit da draußen, die für uns meist unkontrollierbar und chaotisch scheint. Eine gute Geschichte spendet Trost, selbst wenn ihr Stoff grausam oder tragisch ist. Denn wir verstehen wenigstens, warum etwas so passieren musste – oder wir glauben zumindest, zu verstehen. Wir betrügen uns selbst und das müssen wir, um Erkenntnis zu erlangen. Durch diesen Widerspruch zwischen Anspruch der Reportage, der Wirklichkeit nahezukommen und unseren Erwartungen an die gute Geschichte, entstehen diese ungewollten Fälschungen (was mit dem vorsätzlichen Betrug von Claas Relotius nichts zu tun hat!). Natürlich kann die Reportage die Wirklichkeit nie abbilden, diesen Anspruch wird ein Text egal welcher Gattung nicht erfüllen und sollte er auch nicht, ihn würde niemand lesen. Das Abbilden der Wirklichkeit im Text funktioniert schon allein deswegen nicht, weil der Autor seine erlebte Wirklichkeit in Zeichen abstrahiert, die erst im Kopf eines dem Autor meist fremden Lesers, mit völlig anderem Erfahrungsschatz und Denkweise, wieder eine konkrete Bedeutung bekommt. Eine Reportage ist immer eine Transformation der subjektiv erlebten Wirklichkeit des Autors in eine subjektiv gedachte Wirklichkeit des Lesers. Dabei findet eine Verständigung und ein Verstehen statt, gleichzeitig verlaufen die beiden Wirklichkeitsebenen von Autor und Leser niemals deckungsgleich.

Liebesgeschichte eines Vergewaltigers

Er wollte sie in ihrer Ehe vor allem immer dominieren. Als sie ihn betrog und dann verließ, drehte er durch – und vergewaltigte sie. Protokoll eines Männlichkeitswahns. Erschienen in DIE ZEIT, 21.02.2020 Damals, als er die Tat plante, an einem Frühlingstag, habe er zuerst weiße Kabelbinder und schwarzes Klebeband auf den Couchtisch gelegt. Sei danach ins Schlafzimmer gegangen und habe eine Webcam an seinen Laptop gesteckt und sie so ausgerichtet, dass das Bett im Bild war. Dann habe er noch eine Digitalkamera bereitgelegt, um sie, wehrlos daliegend, zu fotografieren. Nur eines habe er da im Sinn gehabt – ihr wehzutun. In seinem Kopf immer wieder derselbe Gedanke: „Was kann ich ihr antun, um meinen Schmerz loszuwerden und sie diesen Schmerz fühlen zu lassen? Ich kann keine Frau schlagen. Klar. Konnte ich nie. Aber demütigen. Das muss sein. Sie muss spüren, was ich gespürt habe …“ Er habe sein Handy genommen und getippt: „Wir müssen reden. Kannst du morgen Abend kommen? Unser Sohn hat mir da was erzählt.“ Ihre Antwort habe bald aufgeblinkt. Sie wolle vorbeischauen. Es war der 4. März 2010. Neun Jahre nach der Tat sitzt Paul (Name geändert) auf einer hellgrauen Stoffcouch in seinem Wohnzimmer in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein – und erzählt seine Geschichte. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, um dem Wahn dieses gewalttätigen Mannes zuzuhören. In Deutschland versucht durchschnittlich jeden Tag ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Laut Zahlen des Bundeskriminalamtes starben dabei im Jahr 2018 122 Frauen, dazu kommen Tausende Fälle von Vergewaltigung, Körperverletzung, Stalking und sexueller Nötigung. Angezeigt wurden 2018 fast 140.000 Fälle von Gewalt in der Partnerschaft. Der Mann, dem ich gegenüber sitze, ist kein Einzelfall. Rückblick, Juli 1999 auf Sylt: Es gibt sie, die Liebe auf den ersten Blick! Paul begegnete ihr in jenem Sommer. Miriam (Name geändert) kam mit ihrem Lover, ein paar Freunden und Pauls Bruder auf die Insel. Paul wohnte in Westerland. […] Gesamter Text auf zeit.de Die Illustration stammt von Alexandra Rügler

Lost & Found in Tötensen

Es ist einer der größten Medienskandale der deutschen Geschichte: Der „Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat Dutzende Reportagen erfunden. Wie lebt einer weiter, dessen Leben in Trümmern liegt? Und was geht mich das an? Reportage: Alexander Rupflin Illustationen: Thomas Kuhlenbeck Der Ort heißt Tötensen. In den Gärten wehen an Fahnenmasten Deutschland- und Werder-Bremen-Flaggen; selten blaue HSV-Fähnchen. Und der Einzige, den man an einem üblichen Nachmittag hier auf den Straßen trifft, ist der Wind. I. Claas Relotius ist hier aufgewachsen und hier wohnt er wieder in seinem Elternhaus und er spielt gerne Fußball auf dem Fußballplatz, der fast direkt gegenüber des Elternhauses grünt. Er spielt Fußball eher im Stile von Bastian Schweinsteiger als Cristiano Ronaldo. Gelassen, trabend, die Übersicht bewahrend. Nicht der Typ, der sich in der Vordergrund drängt und ständig den Ball fordert. Keiner, der sich für jede gelungene Aktion feiert. Aber umgehen kann er mit dem Ball. Kann er wirklich. Um Claas Relotius und mir für ein gemeinsames Treffen ein paar Tage Zeit zu geben — man muss sich ja erst einmal annähern — mietete ich mich für eine Woche im Wox-Hotel ein, erleichtert, dass ein Ort, der keine Kirche hat, kein Rathaus, keinen Bäcker, keinen Metzger, keine Kneipe, immerhin ein Hotel bietet. Ich fühlte mich wohl, auch wenn ich nicht zur Erholung gekommen war. Dabei hätte ich ein wenig Entspannung vertragen können, nach den unzähligen Telefonaten, die ich in den Tagen vor meiner Ankunft geführt hatte, und die früher oder später immer damit geendet hatten, dass der andere in den Hörer rief: „Mit sowas will ich nichts zu tun haben. Nein, dazu sage ich gar nichts. Das geht Sie doch überhaupt nichts an!!“ Das erste Mal bin ich Claas Relotius im Winter 2018 in Berlin begegnet, bei der Verleihung des Deutschen Reporterpreises, in dem Festzelt gleich neben dem Kanzleramt. So hatte ich mir immer die Gala des „Immobilienmanager-Awards“ vorgestellt. Roter Teppich, buntes Licht, Häppchen, Sekt, Abendgarderobe, im Magen kitzelnde Bässe. Glamour, Baby! Aber irgendwie auch: O’zapft is! Im Zelt roch es nach der sanften Melange edler Eaux de Toilette und Schweiß und neben mir an der Bar stand Sascha Lobo. Als sein roter Hahnenkamm in einem Einspieler auf der überdimensionierten Leinwand erschien, blickte das Original starr auf den Boden und ertrug nicht, sich in Übergröße zu erleben. Hätte ich nicht gedacht. Drei Stunden verliehen die Veranstalter Preise in verschiedenen Kategorien. Bestes Interview, bester Datenjournalismus, bester Essay, beste Kulturkritik, beste Sportreportage, beste Wissenschaftsreportage, beste Lokalreportage und so weiter. Der Höhepunkt: die „Beste Reportage“. Sozusagen der Oskar unter den Journalistenpreisen. Der Gewinner: Claas Relotius. Applaus, pumpende Bässe, Laudatio, pumpende Bässe, Applaus. Relotius im Scheinwerferlicht. Über einem schwarzen Pullover trug er den schwarzen Slim-Fit-Anzug. Dazu braune Stiefel, die sagten: Sorry, muss gleich wieder von Gala zu Abenteuer und Blazer gegen Lederjacke tauschen. Der Moderator: „Jetzt sind Sie ja schon hin und wieder auf einer Preisverleihungsbühne als Preisträger gewesen. Wie verhindern Sie, dass Sie einer dieser Dicke-Hose-Journalisten werden?“ Relotius lächelte dünn und sanftmütig. Griff sich das Mikro. „Ich würde lieber über den Text sprechen, weil das wirklich ein ernstes Thema ist, und da so flapsig drüber reden, würde dem nicht gerecht werden.“ Anerkennendes Nicken im Publikum. „Ein Kinderspiel“ hieß die Reportage, die die Jury an diesem Abend zur Besten des Jahres gekürt hatte, darin ging es um einen 20-jähigen Jungen, der angeblich für den syrischen Bürgerkrieg mitverantwortlich ist. Ich kannte den Text nicht und ich hatte noch nie von Claas Relotius gehört, was ich zum Glück niemanden erzählte, denn auf der After-Show-Party sprachen alle über ihn wie über einen alten Schulfreund. Ich erfuhr, dass Claas Relotius der Shooting-Star der Branche sei, für den „Spiegel“ arbeite, gerade mal Mitte Dreißig sei und so ziemlich jeden Journalistenpreis abgeräumt hatte, den man abräumen kann. Er habe aus USA, Syrien, Guantanamo, Mexiko und Kiribati berichtet, eigentlich von überall, und sei dennoch ungemein freundlich und bescheiden. Und ich so: WOW! Ich begriff, wer Reporter sein wollte, sollte werden wie Claas Relotius. Integer, wissbegierig und die Wirklichkeit aufsaugend mit all seinem zur Verfügung stehenden Lungenvolumen, um dann wahre Worte über die Welt niederzuschreiben. Den Rest des Abends trank ich meine Gratis-Aftershow-Gin-Tonics auf diesen Superstar der deutschen Presselandschaft, und der Barkeeper zeigte mir den Milchzahn seines Sohnes, der an einer Goldkette hing. An alles danach erinnere ich mich nicht mehr. Sechzehn Tage nach der Preisverleihung in Berlin verkündete der „Spiegel“ auf seiner Internetseite: „SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen“. Die Enthüllung: Claas Relotius habe einen Großteil seiner Reportagen gefälscht. In manchen Texten Details, andere Reportage seien fast komplett erfunden, die Menschen, die Geschehnisse, so ziemlich alles. Preisgekrönte Reportagen, ausgebreitet vor einem Millionenpublikum, nichts als Märchen und Kitsch. Relotius, der Vorzeige-Reporter, war über Nacht zum Hochstapler jener Branche geworden, die für sich die Wahrheit gepachtet hat, und schnell einigten sich die Journalisten: Der „Fall Relotius“ sei der größte Medienskandal seit den „Hitlertagebüchern“ im „Stern“. Im darauf folgenden halben Jahr prüfte eine Aufklärungskommission des „Spiegel“ alle 60 Reportagen und Artikel, die Relotius für das Magazin geschrieben hatte, und veröffentlichte einen mehrseitigen Abschlussbericht. Zugleich schrieb Juan Moreno, der Mann der Stunde, der Mann, der Relotius überführt hatte und ebenfalls für den „Spiegel“ arbeitet, an einem Buch mit dem Titel „Tausend Zeilen Lüge — Das System Relotius und der deutsche Journalismus“. Sogar die Filmrechte an seiner Enthüllungsstory hat Moreno verkauft. Die Medienbranche reagierte also entsprechend ihrem Naturell. Die feinen Antennen erkannten das Außergewöhnliche, das Geschehnis, das vom definierten Soll- und Normzustand abwich, das Geschehnis wurde auf seine Relevanz hin geprüft (sehr hoch!) und dann wurde das Geschehnis in den brancheneigenen Code transferiert: die Nachricht. Die Nachricht macht ein Geschehnis zu Text, Bild und Ton — und damit die Wirklichkeit fassbar. Denn das Geschehnis selbst, in seinem komplexen Jetzt-Zustand, überfordert den menschlichen Verstand. Dem Geschehnis fehlt erst einmal die Kausalität, weswegen sie für den Menschen nicht fassbar ist. Wie ein Wasserstrahl, nach dem er greifen will. Der Mensch braucht das Medium, damit er sie, die Wirklichkeit und ihre Geschehnisse, bedenken und beurteilen kann. Damit er fragen kann „Wie?“ und „Warum?“. Der Fall Relotius war