Der Schwachsinn der Metaebene

Journalisten behaupten, eine gute Reportage brauche eine Metaebene. Unser Autor Alexander Rupflin aber glaubt, eine Geschichte muss vor allem destilliert werden, um eine menschliche Wahrheit auszudrücken.

Und Georg Büchner schrieb: „Geht einmal euern Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“ – Vorletztes Weihnachten sagten sie mir, die Reportage sei eine Erfindung. Das war hart. Das war die Zeit des großen „Fall Relotius“, da geriet die ganze Gattung in Verdacht, ein paar Journalisten erklärten, aus so einem Art Apocalypse-Now-Gefühl heraus, die Reportage sei ja nichts anders als eine Kurzgeschichte mit Wirklichkeitsbehauptung. Und dabei fanden sie für ihre Anklage auch noch ziemlich gute Belege. Umso länger ich darüber nachdachte, umso richtiger fand ich den Eindruck der Dramaturgie-Nihilisten, Reportagen sind häufig Kitsch – aber das liegt nicht an der Gattung, sondern an der Forderung nach „Metaebenen“.

Vorab will ich kurz deutlich machen: Die Reportage zeigt nur einen Ausschnitt, einen Schnappschuss. Es ist nicht ihre Aufgabe, ein Ganzes zu präsentieren. Es geht nicht darum, vollständig zu berichten oder den totalen Blick auf etwas zu gewähren. Es geht – wie es Gotthold Ephraim Lessing so schön zur Sprache bringt – um den „Fruchtbaren Augenblick“. Dieser Fruchtbare Augenblick ist der Moment des Besonderen, der das Allgemeine darstellt. Ähnlich wie ein Foto, ein Gemälde, die griechische Plastik. Es zeigt einen Ausschnitt, der über sich als Moment hinaus geht und zugleich zurückverweist. Dadurch wird dem Leser der Reportage ein Phänomen symbolisch schaubar und im Idealfall sogar begreifbar.

Die Redaktionen wissen um die Macht der Metaebene

Was ich damit meine: Reportagen können komplexe Zusammenhänge weder erläutern noch erklären, aber sie können als Schlaglicht einen Moment der Vergangenheit erhellen. Das geschieht durch „vollkommene Unmittelbarkeit“ wie Siegfried Kracauer über die (Reportage-)Fotografie schrieb. Dadurch erweckt die Reportage einen bereits verklungenen Moment der Wirklichkeit im Inneren des Lesers noch einmal zum Leben – und lässt den Leser damit, zumindest mittelbar erleben. Wiederum das führt zur Selbstwahrnehmung und wir als Leser werden bewusst in Bezug zur Welt und dessen Geschehen gesetzt. Mit der Fantasie des Lesers, seines individuellen Wissens und seiner Interpretationsfähigkeit, erweitert sich durch die Reportage dessen Kosmos.

Die Redaktionen wissen um diese Macht und versuchen deren Kraft einzusetzen, indem sie für die Reportage von uns Autoren eine „Metaebene“ fordern. Eine Metaebene im Journalismus bedeutet in etwa, eine allgemeingültige Aussage, die über der konkreten Geschichte, dem beschriebenen Einzelfall steht, und dem Leser implizit mitgegeben wird.

Wenn ich früher Journalisten nach einer exakten Definition der Metaebene gefragt habe, bekam ich nie eine klare Antwort. Der Grund ist vermutlich, weil es keine natürliche Metaebene gibt.

Bei Metaebenen klingt der Mythos der Reportage an

Ich will es für diesen Text einmal selbst versuchen: Die Metaebene meint die Reflexionsebene, sie ist nicht die Ebene des Themas. Mittelbar nimmt der Text auf dieser Ebene auf sich selbst Bezug. (Zu offensichtlich geschieht das manchmal mit Phrasen wie „Das ist eine Geschichte über …“) Auf der Metaebene klingt etwas an, das ich als „Mythos“ bezeichne: Das Grundlegende, die innerste Bedeutung des Erzählten, einer Wahrheit die tiefer liegt, als das rein Faktische. Etwas, das nicht durch Studien belegt wird. Hier betreibt der Autor Weltdeutung und wird unter Umständen allegorisch.

Es ist der Mythos, der durchs Denken einer Metaebene der Reportage eingehaucht werden soll. Ich fürchte aber, dass genau diese Denkweise ihr Ziel verfehlt und statt die Wahrheit eines menschlichen Mythos zu formulieren, Klischees produziert.

Klar, reine Erlebnisse haben zuerst keine Metaebene, weil natürlich nichts geschieht als ein Symbol für etwas Allgemeingültiges. Also wird die Metaebene in aller Regel künstlich am Schreibtisch oder in der Redaktionskonferenz entworfen – auch, bevor die Recherche begonnen hat. Es sind Ideen, Interpretationen, Vorurteile. Klassische Stereotypen, Denkmuster und Erwartungen – sie müssen im Anschluss der Wirklichkeitsprüfung von uns Reportern standhalten. Im übelsten Fall kommen dadurch die Reportagen zustande, deren Verlauf ich schon kenne, sobald ich den Teaser gelesen habe. Das klingt zunächst nach einer allgemeinen Kritik an mangelnder Textqualität, die wiederum vom genauen Ausloten der Zu- und Umstände abhängt. Aber mir fallen diese vorhersehbaren Geschichten ausgerechnet bei den ganz großen Magazinen auf.

Und natürlich, Erfolg gibt deren Redaktion recht. Die Denkweise in sogenannten Metaebenen, die in Wahrheit weniger Ebenen, als vielmehr Schubladen sind (warum genau, dazu später), entspricht unseren plakativen Lesererwartungen. Als Leser wollen wir keine allzu großen Überraschungen, es darf ein paar Wendungen und Drehungen geben, um Spannung zu erzeugen, ob wir mit unseren Erwartungen auch wirklich richtig liegen, aber am Ende muss die Geschichte doch so gebaut sein, dass sie uns als Leser befriedigt. Zumindest, wenn man als Macher dieser Geschichten kommerziellen Erfolg haben möchte – und Redaktionen brauchen kommerziellen Erfolg.

Die gute Reportage ist immer auch Selbstbetrug

Der Grund für das Gelingen dieser Masche ist unsere Hoffnung als Rezipienten eines Mediums, durch dieses uns die Welt begreifbarer zu machen, rational und beurteilbar. Darum braucht eine Geschichte, die wir als positiv empfinden, eine innere Kausalität – ganz anders als die Wirklichkeit da draußen, die für uns meist unkontrollierbar und chaotisch scheint. Eine gute Geschichte spendet Trost, selbst wenn ihr Stoff grausam oder tragisch ist. Denn wir verstehen wenigstens, warum etwas so passieren musste – oder wir glauben zumindest, zu verstehen. Wir betrügen uns selbst und das müssen wir, um Erkenntnis zu erlangen. Durch diesen Widerspruch zwischen Anspruch der Reportage, der Wirklichkeit nahezukommen und unseren Erwartungen an die gute Geschichte, entstehen diese ungewollten Fälschungen (was mit dem vorsätzlichen Betrug von Claas Relotius nichts zu tun hat!).

Natürlich kann die Reportage die Wirklichkeit nie abbilden, diesen Anspruch wird ein Text egal welcher Gattung nicht erfüllen und sollte er auch nicht, ihn würde niemand lesen. Das Abbilden der Wirklichkeit im Text funktioniert schon allein deswegen nicht, weil der Autor seine erlebte Wirklichkeit in Zeichen abstrahiert, die erst im Kopf eines dem Autor meist fremden Lesers, mit völlig anderem Erfahrungsschatz und Denkweise, wieder eine konkrete Bedeutung bekommt. Eine Reportage ist immer eine Transformation der subjektiv erlebten Wirklichkeit des Autors in eine subjektiv gedachte Wirklichkeit des Lesers. Dabei findet eine Verständigung und ein Verstehen statt, gleichzeitig verlaufen die beiden Wirklichkeitsebenen von Autor und Leser niemals deckungsgleich. Dazu kommt noch, dass der Autor durch Auswahl und Wortwahl die Möglichkeiten der zu denkenden Wirklichkeiten des Lesers allerdings stark einschränkt. So lässt sich sagen, die Wahrheit eines Textes ist an das Verstehen gekoppelt.

Diese Wahrheit der Reportage ist im Idealfall eine Wahrheit, die andere journalistische Formen nicht transportieren können: die menschliche Wahrheit (wie ich sage: „der Mythos“). Eine Wahrheit, die nicht innerhalb von Zahlen, Fakten und Studien liegt, sondern im Empfinden des Menschen als Mensch innerhalb seines Lebens, und zwar durch das Miterleben der Geschichte eines anderen Menschen. Die Reportage ist die einzige journalistische Form, die uns als empathische Wesen anspricht. Es sind gedankliche Testdurchläufe für das eigene Leben: Indem der Leser das Wohl und Weh der Protagonisten in der Reportage nachvollzieht, lernt er etwas über die menschliche Natur innerhalb seines politischen, gesellschaftlichen, ökologischen, kulturellen Umfelds. Beim Lesen der Reportage befasst sich der Leser also zugleich mit der eigenen Innenwelt als auch mit der eigenen Außenwelt als auch mit der Welt der anderen – und er fühlt mit. Allerdings nur solange die Geschichte von einer solchen menschlichen Wahrheit handelt. Dann kann ein ästhetischer Moment entstehen. Dann hat die Reportage literarische Qualität. – Andernfalls durchschaut der Leser die Fälschung und legt die Reportage beiseite oder, schlimmer, er fällt darauf hinein und gibt sich mit einem allzu simpel gezeichneten Weltbild zufrieden.

Warum die gute Reportage keine Metaebene braucht

Die Frage ist, wie kann das Problem der konstruierten Metaebene umgangen werden, ohne dass der Autor zugleich die Frage nach der menschlichen Wahrheit (dem Mythos) innerhalb der Geschichte ausblendet.

Die Metaebene ist ein Konstrukt, ein Bauwerk, das die Reportage künstlich zusammenhalten soll. „Meta“ steht für höher stehend, ein Überbau. Sie wird gemacht. Sie ist eine Erfindung, die aus gemachten Erfahrungen unseres Lebens, aber auch derer aus kommerziellen Filmen, Märchen, (schlechten) Romanen und Werbung stammen. Die wahrhaftige Reportage verträgt keine Erfindung.

Mir fällt da eine Behauptung des Schriftstellers Raymond Chandler ein: „Eine gute Geschichte, kann man sich nicht ausdenken, sie muss destilliert werden.“ – Das gilt, denke ich, für die Literatur genauso wie für die Reportage. Ein Destillat ist, anders als ein Überbau, ein Bestandteil des Ganzen, es ist Elixier und Ergebnis einer Abtrennung vom gesamten, ursprünglichen Stoff. Es ist das Gegenteil des Konstrukts. Es ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Ursprünglichen. Man schöpft etwas ab, man baut nicht dazu. Man offenbart, man überdeckt nicht. Ein Suchen, ohne zu Wissen, was genau man sucht, bis man es gefunden hat, weil es klar, rein und flüssig vor einem liegt. Es ist eine ganz andere Verfahrensweise, eine Geschichte zu destillieren, als eine Metaebene zu entwerfen. Ich bin davon überzeugt, das führt dann automatisch dazu, dass die Geschichte Wellen, Kanten, Brüche, Untiefen aufweist. Zugleich bleibt sie kausal – wieso, dazu gleich noch.

Destillieren statt Metaebenen konstruieren

Es geht mir hier nicht um eine reine Begrifflichkeit, sondern um einen anderen Denkansatz. Der Werbetexter John Bevins beschreibt die Methode, wie er zu seinen Ideen kommt nämlich so: „Du weißt nie, wonach du suchst, bis du es gefunden hast, und du wirst es nie finden, wenn du weißt, wonach du suchst.“ Man mag meinen, gerade ein Werbetexter sei die schlechteste Quelle, wenn es darum geht, wie man etwas Wahrhaftiges zu Papier bekommt. Aber es ist doch so: Wirklich gute Werbung funktioniert, wenn sie eine Wahrheit formuliert, eine Sehnsucht, die uns soweit empfänglich macht für das Produkt, dessen Nutzen wir dann nicht mehr anzweifeln.

Wie gelingt es uns, im gesammelten und recherchierten Stoff die menschliche Wahrheit zu destillieren? Mein Werkzeug ist die Frage nach dem „Warum?“. Das Fragewort „Warum“ führt in der Antwort zum Grund oder dem Motiv einer Sache oder einer menschlichen Handlung. Die Antwort trägt darum automatisch eine Kausalität in sich. Diese Kausalität wird in meinem Schreibprozess zu den Gliedern der (im Sinne der Logik) Wahrheit der Geschichte. Die Frage nach dem „Warum?“ stelle ich meinem Material solange, wie ich sie als Kind meinen Eltern gestellt habe: bis keine Antwort mehr kommt.

Wenn ich es ganz genau nehme, muss ich dann meinen Stoff mit der Frage „Wieso?“ noch ein zweites Mal destillieren, um die reinen Ursachen des Geschehens abzusondern. Dann muss ich bloß noch schreiben …