Erzählen hat Methode: Rausschmeißer – Teil III: Der Schlag

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel8: Rausschmeißer – Der Schlag Wie alles Schreiben, folgen auch die Möglichkeiten einen Text zu beenden gewissen handwerklichen Regeln. Meister des Fachs können, wie überall, diese Regeln brechen – und so herausragende Ausstiege schreiben, die perfekt abgestimmt sind auf eine einzigartige Geschichte. Und doch besitzen Regeln und Kniffe ihren Wert: Setzt man sie gekonnt ein, entfalten Textausstiege ein Echo, das laut und lange klingt. Der narrative Journalismus kennt drei klassische Herangehensweisen, eine Erzählung zu beenden: 1. Die Klammer (circle kickers) 2. Der Schlag (punch kickers) 3. Das Zitat (quote kickers) Zu den Techniken von circle und quote gibt es jeweils einen eigenen Beitrag. An dieser Stelle möchte ich mich auf den punch kicker konzentrieren. Die Art von Ausstieg also, die Art von Ausstiegen also, die einen Text mit Wucht beenden und den Leser beinahe schmerzhaft treffen. Der Schlag: Es ist eine beliebte Herangehensweise, um einen Text zu beenden. Und eine, die selten wirklich gut gelingt. Der letzte Absatz läuft immer spitzer zu und schließt mit dem letzten Satz der Geschichte. Dessen Aussage soll sich wie eine Speerspitze in den Leser bohren. Weil solche Enden uns treffen, oft weh tun, immer Gefühle entfachen, verweben sie Information mit Emotion. Das transportiert die Botschaft des Textes in unser Gedächtnis. Anders, als etwa Klammer- oder das Zitat-Enden, beziehen sich letzte Absätze, die als Punch konzeptioniert sind, nicht zwingend direkt auf die vorangegangene Handlung. Der Autor selbst kann eine Frage stellen, einen winzigen essayistischen Exkurs wagen oder auch mit einem wenige Zeilen fassenden Kommentar schließen. Das ist schwierig. Kann aber gelingen, wenn der abschließende Gedanke klug, der letzte Kommentar scharf ist. Auch, eine besondere Charaktereigenschaft des Protagonisten, beispielsweise eine Art zu sprechen, noch einmal aufzugreifen und dieses Merkmal als Erzähler in einen neuen Sinn-Kontext zu stellen, kann einen Text auf großartige Weise beenden. Beispielsweise haben gleich mehrere US-Reporter die Art der Marines aufgegriffen, eindeutigen Antworten auszuweichen. Die Soldaten antworteten immer mit einem „Well yes. Well no. But…“ (‚Vielleicht ja. Vielleicht nein. Aber…‘) und erklärten in vielen Worten, dass alles eben nicht so einfach sei. Im Afghanistan-Einsatz kamen neben Soldaten viele Zivilisten ums Leben. Bei einer in ganz besonderem Ausmaß gescheiterten Operation töteten Soldaten die halbe Bevölkerung eines Dorfs – sie hielten die Siedlung fälschlicherweise für ein geheimes Terroristen-Versteck. Ein Text-Ende könnte sein: „Wäre diese Tragödie zu vermeiden gewesen? Vielleicht ja. Vielleicht nein. Aber so sieht‘s eben aus, in einem Krieg.“ Natürlich geht es aber auch klassisch: Wie bei allen Text-Enden, kann man auch die Punch-Technik als Rückbezug auf das bisherige Geschehen konzeptionieren. Dann wirkt die Geschichte wie eine gespannte Bogensehne, der letzte (Ab-)Satz feuert den vorbereiteten Pfeil ab. Beispielsweise ließe sich eine Szene auf dem Flohmarkt eines Dorfkindergartens beschreiben. Ein Text steigt mit der Szene der improvisierten Stände ein, mit Kindergelächter und bunten Luftballons. Wir erleben eine Kamerafahrt über alte Teeservice, abgenutzte Kuscheltiere und selbstgebastelte Papiersterne. Irgendwann bleibt ein Mann an einem Stand stehen. Auf der Auslage liegen neben Spielzeugen auch ein Paar Kinderschuhe. Der Mann sieht die Schuhe an. Er ist selbst gerade Vater geworden. Die Schuhe sind himmelblau, seine Lieblingsfarbe. Von der Größe könnte das auch passen, seine Tochter ist anderthalb Jahr alt und hat gerade gelernt zu laufen. Der Mann spricht die junge Frau hinter der Auslage an. „Das sind aber schöne Schuhe! Ich mag die Farbe sehr“, sagt der Mann. „Die Farbe hab ich damals für meine Tochter ausgesucht. Sie passten so gut zu Milenas Augen“, antwortet die Frau. „Nee, so überlegt ist das bei mir nicht. Sie gefallen mir einfach.“ „Muss ja auch nicht sein.“ „Wie viele sollen sie denn kosten?“ „Fünfzehn Euro.“ „Wären zehn okay?“ „Zwölf?“ „Ich habe gerade leider nur zehn Euro mit.“ „Okay, dann eben für den Zehner.“ Der Mann zieht seine Geldbörse aus der rechten Hosentasche seiner Jeans. Aus dem Fach für die Scheine zieht er die zehn Euro. Gut, dass er die Münzen immer in seiner Jackentasche verstaut, denkt er, sonst würden die gerade garantiert klimpern. Natürlich hätte er die Zwölf gehabt, auch die 15 irgendwie. Aber in dem Alter wächst ein Kind so schnell raus aus der Kleidung, da muss man doch sparen. Am Abend sitzt er am Ufer eines Flusses und fühlt sich elend. Zeh Euro. Diese verdammten Dinger. Aber wer hätte das denn ahnen können? Als er vom Flohmarkt heimgekommen war, hatte er seiner Freundin stolz seine Beute präsentiert. Zwei wunderschöne, hellblaue Schuhe für ihre Tochter. Und nur einen Zehner bezahlt! Sie hatte ihn angestarrt und sich dann einfach weggedreht. Ohne ein Wort, einfach weg zum Paprika schneiden fürs Mittagessen. Dabei hatte die blöde Kuh ihn doch seit dem Türkeiurlaub im letzten Sommer immerzu aufgezogen, er könne nicht verhandeln. Wie immer war er nach dem Essen eine kleine Runde um den Block gelaufen. Die Schuhe hatte er mitgenommen. Wieso überhaupt? Vielleicht war er einfach nur beleidigt. Auf dem Spaziergang hatte er die Nachbarin getroffen. Auch ihr hatte er die Beute gezeigt. Nein, richtig präsentiert hatte er die beiden Treter! Am Anfang hatte die Nachbarin noch gelacht. Als er dann aber die Geschichte über seine Verhandlungskünste erzählte, war da plötzlich derselbe leere Blick. Aber anders, als seine Freundin, sagte sie ihm dann auch, warum. Milena konnte gerade laufen. Merke: Punch-Kickers verweben Information mit einer besonders starken Emotion und zementieren die Botschaft eines Textes so in unserem Gedächtnis.

Erzählen hat Methode: Rausschmeißer – Teil II: Das Zitat

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel8: Rausschmeißer – Das Zitat Wie alles Schreiben, folgen auch die Möglichkeiten einen Text zu beenden gewissen handwerklichen Regeln. Meister des Fachs können, wie überall, diese Regeln brechen – und so herausragende Ausstiege schreiben, die perfekt abgestimmt sind auf eine einzigartige Geschichte. Und doch besitzen Regeln und Kniffe ihren Wert: Setzt man sie gekonnt ein, entfalten Textausstiege ein Echo, das laut und lange klingt. Der narrative Journalismus kennt drei klassische Herangehensweisen, eine Erzählung zu beenden: 1. Die Klammer (circle kickers) 2. Der Schlag (punch kickers) 3. Das Zitat (quote kickers) Zu den Techniken von circle und punch gibt es jeweils einen eigenen Beitrag. An dieser Stelle möchte ich mich auf den quote kicker konzentrieren. Die Art von Ausstieg also, der einen Text mit einem Zitat beendet – und so das letzte Wort (scheinbar) dem Protagonisten überlässt. Das Zitat: Es ist eine eher selten gewählte Technik, um einen Text zu beenden. Manche Ausbildungsredakteure empfehlen: Der letzte Satz gehört dem Autoren, niemals überlassen wir ihn dem Protagonisten. Der Hinweis ist sicher gut gemeint. Einen Text mit einem Zitat zu beenden birgt tatsächlich die Gefahr von Faulheit. Es mag daher durchaus sein, dass man auf diese Methode ausweicht, weil auf die Schnelle nichts besseres einfällt. Ist gedankliche Trägheit der Grund für einen Quote-Kicker, ist das fatal. Ein Zitat sollte – wie jedes Textende – mit gutem Grund gewählt sein, als Ergebnis eines beharrlichen Abtastens, welche Art von Ausstieg die Geschichte am besten beendet. Gelingt das, entfaltet die Methode einen machtvollen Impuls, der sich im Leser festsetzt. Wählt man die Zitat-Methode, entlarvt der Zitierte im letzten Moment der Erzählung noch etwas über sich selbst. Das regt zum Nachdenken an. Und so begleitet die Geschichte uns – weit über das letzte Zeichen hinaus. Genau wie das Klammer-Ende, spielt die Zitat-Methode mit vorangegangene Szenen, Geschehnisse oder Gedanken. Wir als Leser haben, zumindest bei einer gelungenen Geschichte, eine Reise hinter uns gebracht. Ein Protagonist erklomm Höhen und fiel, stand wieder auf und kämpfte weiter. Die handelnde Person hat ein Abenteuer erlebt. Und wir Leser waren dabei. Mit jeder Entscheidung, jedem Gedanken und jeder Handlung haben wir ein klein wenig mehr über den Menschen erfahren, der die Erzählung trägt. Am Ende haben wir im besten Fall eine Charakterskizze vor Augen. Wir glauben, zumindest grob, den Protagonisten zu kennen. Zitat-Ausstiege fokussieren auf genau diese Wirkung einer Geschichte. Die bereits entstandene Charakterskizze wirkt wie ein Anlauf. Der Zitat-Ausstieg ist der finale Sprung aus dem Text. War der Anlauf gut und der Absprung präzise, kommt man sehr weit. Dieser Absprung kann verschiedene Wirkungen erfüllen. Ein Zitat-Ende kann… 1) …die Charakterskizze akzentuieren. Folgt man diesem Sinn, vervollständigt das Zitat im besten Fall unseren Eindruck des Protagonisten. Es ist das finale Puzzlestück, durch das wir das schlüssige Charakterbild endlich vor uns sehen. 2) …die Charakterskizze bestätigen. Wählt man diesen Zweck, unterstreicht das abschließende Zitat noch einmal das entwickelte Personenbild. Ein solches Ende will entweder sichergehen, dass das Ende beim Leser klar ankommt. Durch das Zitat nickt gewissermaßen der Protagonist selbst noch einmal und sagt zwischen den Zeilen: Ja, du hast den Text verstanden und deutest meine Entwicklung richtig. 3) …die Charakterskizze brechen. Dieser Abschluss ist so gefährlich wie mächtig. Das Risiko zu scheitern ist groß, beim Gelingen sind Wirkung auf und Nachklang im Leser riesig. Über zig Zeilen einer Erzählung hinweg haben wir eine Person kennengelernt. ‚Wie tickt dieser Mensch?‘ Wir besitzen eine recht genaue Vorstellung von der Antwort. Das Zitat-Ende stellt diese Antwort – im besten Fall radikal – in Frage. Merke: Zitat-Ausstiege fokussieren auf die Charakterskizze, die eine Erzählung skizziert. Die Entwicklung der Geschichte wirkt wie ein Anlauf, das Zitat ist der finale Sprung aus dem Text. War der Anlauf gut und der Absprung Präzise, kommt man sehr weit.

Erzählen hat Methode: Rausschmeißer – Teil I: Die Klammer

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel8: Rausschmeißer – Die Klammer Wie alles Schreiben, folgen auch die Möglichkeiten einen Text zu beenden gewissen handwerklichen Regeln. Meister des Fachs können, wie überall, diese Regeln brechen – und so herausragende Ausstiege schreiben, die perfekt abgestimmt sind auf eine einzigartige Geschichte. Und doch besitzen Regeln und Kniffe ihren Wert: Setzt man sie gekonnt ein, entfalten Textausstiege ein Echo, das laut und lange klingt. Der narrative Journalismus kennt drei klassische Herangehensweisen, eine Erzählung zu beenden: 1. Die Klammer (circle kickers) 2. Der Schlag (punch kickers) 3. Das Zitat (quote kickers) Zu den Techniken von punch und quote werde ich jeweils einen eigenen Beitrag verfassen. An dieser Stelle möchte ich mich auf den circle kicker konzentrieren, die Art von Ausstieg also, der einen Text wie eine Klammer zusammenhält. Die Klammer: Es ist die vielleicht am häufigsten gewählte Technik junger Autorinnen und Autoren: die Klammer. Und das völlig zu Recht! Die Methode zählt zu den mächtigsten Möglichkeiten, eine Geschichte zu beenden. Wählt man die Klammer-Methode, beziehen sich Einstieg und Ausstieg eines Textes aufeinander. Setzt man sie richtig ein, wird der Leser schon beim Einstieg auf eine Spur geschubst, auf die er sich am Ende noch einmal rückblickend beziehen kann. Dadurch, dass uns das Klammer-Ende vorangegangene Szenen, Geschehnisse oder Gedanken aus dem Klammer-Anfang noch einmal ins Gedächtnis ruft, wird deutlich, was sich dazwischen verändert hat. Klammer-Ausstiege fokussieren auf den Kontrast zwischen Beginn und Ende einer Geschichte. Sie setzen die Entwicklung zwischen diesen beiden Punkten unters Brennglas. Und verankern so die Botschaft einer Erzählung in unserer Erinnerung. Besonders wirken solche Ausstiege in Texten, in denen ein Kreislauf aufgezeigt werden soll. Beispielsweise über das Werden und Vergehen in der Natur, überlässt man ein überfahrenes Reh dem Wirken des Waldes: Auszug Klammer-Einstieg: „[…] Grelles Licht, etwa 80 Kilometer pro Stunde, da springt ein Schemen aus der Nacht, vielleicht hallt ein Hupen über die Straße und verfängt sich am Waldrand in Zweigen. Irgendwo im Wald nehmen Wurzeln Nährstoffe auf, wo der Rehkörper liegen blieb, düngen besonders viel Phosphor, Magnesium, Kalium den Boden. […]“ Auszug Klammer-Ausstieg: „[…] Ein paar Meter weiter saugen Wurzeln nach dem Dünger, vielleicht hilft die Energie einem Sprössling beim Wachsen: Erst schiebt sich ein Blatt aus der Erde, dann ein Stiel, irgendwann gedeiht ein Bäumchen. Zarte Triebe werden gerne gefressen von Rehen. […]“ – Quelle: Manuel Stark in Science Notes; Ausgabe: ‚Wildnis‘, April 2021 Gekonnt eingesetzt, kann diese Technik zu mehr verhelfen, als einem klingenden Ausstieg. Eine Klammer kann einer geeigneten Erzählung eine eigene Meta-Ebene hinzufügen: Von Geschichten erwarten wir Entwicklung, eine Veränderung die sich auf der Handlungsebene und damit in uns als Leser vollzieht. Am Ende muss irgendetwas also anders sein, als am Anfang. Oder? Das Leben ist nicht so stringent. Oft sind Menschen gefangen in struktureller Benachteiligung oder persönlicher Angst. Die Protagonisten einer Geschichte erleben und durchleben zwar Geschehnisse, sie entwickeln sich dadurch sicher auch. Aber sie entkommen den Fesseln nicht, die sie an eine Sache, eine Gewohnheit oder ein Problem binden. Die Außenwelt ist zu mächtig. Ebendiese Ausweglosigkeit, in der Menschen ihren (Lebens-) Umständen ausgeliefert sind und bleiben, kann die Klammer-Methode unterstreichen. Gekonnt beweist das die Autorin Cathrin Schmiegel in ihrem Text über eine Frau, gefangen in den strukturellen Problemen von Altersarmut: Auszug Klammer-Einstieg: „Sie hatte in ihrem Leben zwei Ehemänner verloren und ihr ganzes Vermögen, als Ingrid Millgramm, geboren 1933, in einem Supermarkt stand und eine Packung Rinderhackfleisch aufriss, 500 Gramm, reduziert. Sie nestelte einen Gefrierbeutel aus ihrem Weidekorb und schüttelte das Hackfleisch hinein, sah über ihre Schultern, nach rechts, nach links, zur Fleischtheke hinüber, zum Kühlregal. Beobachtet mich jemand? […]An der Kasse legte sie die Butter auf das Band, das erste und das zweite Paket Knäckebrot. Nur den Klumpen Fleisch ließ sie im Korb […]“ Auszug Klammer-Ausstieg: „Drei Tage vor Heiligabend wird Ingrid Millgramm freigelassen. Zwei Polizisten, eine Frau, ein Mann, fahren sie mit dem Streifenwagen zu ihrem Haus. In den nächsten Wochen wird sie erst mal abwarten, dass sich der Husten beruhigt. Dann wird sie sich um ihre Dinge kümmern. Sie wird ihre Bewährungshelferin anrufen, sie wollen versuchen, mehr Wohngeld auszuhandeln. Und dann, wenn die Nahrungsvorräte ausgegangen sind, wird Ingrid Millgramm aufstehen aus ihrem Ohrensessel, zittrig und steif, einen Kamelhaarmantel überstreifen, nach ihrem Korb greifen und mit dem wenigen Geld, das ihr noch geblieben ist, einkaufen gehen.“ – Quelle: Cathrin Schmiegel in DER SPIEGEL; 08. Juni 2018 Die Autorin schreibt „einkaufen gehen“ und doch fragt man sich als Leser: Was bedeutet das – „einkaufen“? Geht die Frau erneut stehlen? Und irgendetwas in uns flüstert: natürlich! Wie soll sie denn auch sonst über die Runden kommen, die Umstände haben sich ja nicht geändert. Für uns als Leser ist nach dem Text aber etwas passiert: Wir wissen plötzlich um diese Struktur. Durch die Geschichte von Frau Millgramm haben wir sie szenisch erlebt. Wir haben uns verändert. Das Leben der Dame hingegen verharrt scheinbar im Stillstand. Sie ist gefangen in den übermächtigen Strukturen der Altersarmut, der sie einfach nicht entkommt. Der geschickte Einsatz der Klammer-Methode injiziert uns zwei widersprüchliche Impulse: In uns treffen Veränderung und Stillstand aufeinander. Unser Wissenszugewinn will nicht zusammenpassen mit der stupiden Wiederholung, die das Leben der Frau zu nehmen scheint. Das sorgt für Irritation. Unser Hirn aber strebt nach Harmonie und will diese Verwirrung auflösen, indem es die widerstreitenden Pole – Veränderung und Stillstand – zusammenbringt. Die Folge: Die Situation von Frau Millgramm und das Thema der Altersarmut in Deutschland arbeiten in uns weiter. Merksatz: Klammer-Ausstiege fokussieren auf den Kontrast zwischen Beginn und Ende einer Geschichte, sie setzen die Entwicklung unters Brennglas.

Erzählen hat Methode: Der Kuleshov-Effekt

In dieser Reihe teilt unser Autor Manuel Stark jeden zweiten Montag handwerkliche Regeln und Hinweise zum Schreiben. Wir feiern den Erzähl-Journalismus. Weil eine Party nur zusammen Spaß macht, teilen wir unser Wissen. Und freuen uns über Austausch. Gemeinsam für die gute Geschichte! Kapitel7: Der Kuleshov-Effekt – Erzählen durch Weglassen Ein einziges Bild unterscheidet liebevoll von pervers, eifersüchtig von gerecht, frech von fröhlich. Diese mehr als 100 Jahre alte Erkenntnis ist noch heute eines der wichtigsten Instrumente für das Erzählen guter Geschichten. Sie stammt vom Sowjet-Filmemacher Lev Kuleshov, um 1910, und bedeutet in ihrer simpelsten Form: Gib deinen Zuschauern, Lesern, Hörern, immer nur den Rechenweg vor, niemals das Ergebnis. Menschen lieben es, sich intelligent zu fühlen, für Erkenntnis zu arbeiten und beim rezipieren einer Geschichte zumindest ein wenig ihre eigene Kreativität anzustrengen. Das schafft Verbindung, Identifikation, Nähe – und erzeugt Sog. Immer: „2+2 =“. Niemals: „4“. Um das zu beweisen, führte Alfred Hitchcock ein Experiment durch: Er zeigte verschiedenen Publikumsgruppen das Gesicht eines alten Mannes: Der Ausdruck, neutral, verzieht sich langsam zu einem Lächeln. Das eine Mal fügte Hitchcock als zweites Bild eine Szene an: eine junge Frau spielt mit ihren zwei Kindern. Dann fragte er sein Publikum, wie es wohl um den Charakter des Mannes stehe, welche Art von Mensch sei das wohl? Ein gütiger Großvater, ein warmherziger Alter, ein liebevoller Gentleman, vielleicht ein Freund der Familie. Jedes Mal waren die Zuschreibungen positiv, schilderten einen zugewandten, vertrauenswürdigen Menschen. Das andere Mal schnitt Hitchcock als zweites Bild wieder eine junge Frau in die Sequenz: Diesmal entledigte sie sich ihres Kleides, um sich im Bikini am Strand zu sonnen. Die Reaktionen des Publikums unterschieden sich heftig. Lüstling! Perverser alter Mann! Notgeiler Spanner! Kein einziges positives Urteil, stattdessen unterstellten manche dem alten Herren gar die Bereitschaft zu einem Sexualverbrechen. Beide Male war es genau dasselbe Gesicht, genau derselbe Wandel des Ausdrucks, es war die exakt selbe Filmsequenz. Die darauf folgenden Bilder hatten nichts mit dem Mann zu tun und wurden beide Male völlig fremden Kontexten entnommen. Trotzdem waren – egal, wie oft Hitchcock sein Experiment wiederholte – die Zuschauer jedes Mal überzeugt von ihrem jeweiligen Urteil und sahen keinerlei Grund, an ihrer Einschätzung zu zweifeln. Wir deuten Eindrücke also niemals einzeln, sondern immer nur in Bezug auf ihren Kontext. Diesem Effekt zu Grunde liegt ein Phänomen der Psychologie. Unser Hirn ordnet neue Sachverhalte ein, indem es nach Lektionen aus unserem Erfahrungsschatz sucht, mit denen es das aktuelle Geschehen abgleichen kann. Diese Erfahrungen übersetzt es in ein „wenn, dann“-Muster. In der Frühzeit des Menschen waren diese Fähigkeiten und Ableitungen wichtig, um das Überleben unserer Spezies zu sichern. „Wenn Raubtier, dann lauf weg!“ Je nach Kontext verschiebt sich das Muster, nachdem unser Hirn Erfahrungen analysiert und als „passend“ für die aktuelle Situation einstuft und abruft. Für eine Erzählung bedeutet das: Nicht nur das, was ich erzähle, ist Teil meiner Geschichte. Genauso wichtig ist das, was ich nicht erzähle. Jedes Weglassen verändert, genauso wie jedes Hinzufügen, den Kontext einer Schilderung. Das eröffnet eine neue Ebene des Erzählens: Die des Lesers, Hörers oder Zuschauers als Selbst-Erzähler. Durch Weglassen öffne ich Räume, die mein Leser mit eigener Erfahrung flutet. Das schafft Identifikation durch Wiedererkennen des eigenen Selbst in jeder noch so fremden Handlung, Situation der Figur. Nichts stärkt deutlicher den Sog einer fesselnden Geschichte. Zu oft berücksichtigen Autoren den Kuleshov-Effekt nicht. Dann doppeln sich die von ihnen genutzten Bilder, Sätze oder Schilderungen nur mit den Gedanken und Erkenntnissen, die mein Leser ohnehin durch eigene Erfahrung und Erwartung in seinem Kopf erschafft. Solche Dopplungen zerstören Spannung, schwächen Geschichten, erzeugen Langeweile und Erwartbarkeit. Erzähle ich stattdessen nur das Notwendige und vertraue dem Leser, die Zusammenhänge selbst herzustellen, mute ich ihm eigene Leistung zu – er arbeitet mit, für sein Erleben. Beispiel; jeder kennt es aus Horror-Filmen, Thrillern oder Krimis: Bild 1: Zoom auf die Waffe. Bild 2: Ein Mensch ist gerade unaufmerksam, etwa weil er duscht. Bild 3: Polizei zieht den Leichensack zu. Weder muss man den Weg des Mörders in das Haus zeigen, noch die Begegnung von Opfer und Täter, noch die gewaltsame Auseinandersetzung und den Mord. Das alles findet – mal mehr, mal weniger blass – als logische Konsequenz in unseren Köpfen statt. Man weiß, was passiert ist. Das spart Sendezeit und lädt den Zuschauer zum Mitarbeiten ein, über das wie des Tathergangs zu rätseln. Würde ein Filmemacher stattdessen jeden einzelnen Schritt zeigen, käme er vermutlich alleine für diese Szene auf etwa 20 Minuten Sendezeit – statt auf die üblichen 2-3, die eine solche Szene in einem Film einnimmt. Im Erzähljournalismus zeigen sich Verstöße gegen den Kuleshov-Effekt oft dann, wenn Autoren zeigen wollen, wie schlau, intellektuell oder gebildet sie sind. Dann verwechseln sie „Einordnung“ mit Eitelkeit. Natürlich ist auch mir das schon passiert. Ich schrieb im Rahmen meiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule über ein Ehepaar, das seinen letzten gemeinsamen Urlaub am Starnberger See verbringt. Sie ist Herzkrank, er hat aggressiven Krebs. Das sah dann so aus: Sie sitzen nebeneinander auf der Bank am Ufer, er sucht ihren Blick aber sie sieht ihn nicht an. Der Starnberger See ohne ihren Alfons? Wenn ein Mensch stirbt, mit dem man mehr als 60 Jahre zusammen war, was bleibt dann noch? Was bleibt von einem selbst übrig? Man definiert sich ja doch auch immer über das Umfeld. Mit dem vertrauten Menschen stirbt ja nicht nur der Geliebte, es stirbt auch der eigene Platz in der Welt. Gestattet mir hier bitte Ehrlichkeit: Das ist von Eitelkeit getriebene Pathos-Scheiße. Die Sätze sprechen das Offensichtliche aus, statt eine Szene zu erzählen. Sie stellen den Tiefsinn des Autoren auf die Bühne, statt darauf zu vertrauen, dass Leser ebendiese Fragen und Empfindungen durch eine gelungene Erzählung in sich selbst spüren – ohne, dass ich als Autor sie ihnen vorkaue. Der Text spart an der Rechnung (2+2), um das Ergebnis laut herauszubrüllen (= 4!!!!!). Ich vertraute der Geschichte nicht, wollte stattdessen mit Schläue und Sprache prahlen. Besser wäre gewesen: Es ist Mittag, bei über 30 Grad brennt die Seeoberfläche in Weiß. Alfons und Henriette haben sich