Es lebe die Metaebene!

Vor einer Woche hat sich unser Autor Alexander Rupflin gegen die Metaebene in Reportagen ausgesprochen. Benedikt Herber widerspricht: Ohne die Metaebene bleibt jede Geschichte trivial. Gegen den Kitsch hilft ein anderes Mittel. Ist die Reportage tot? Oder doch nur die Metaebene, wie Alexander in seinem Essay „Der Schwachsinn der Metaebene“ verkündet? Ich würde sagen: Weder noch. Dass die Reportage vorschnell als eitle, durchweg kitschige und eigentlich unjournalistische Fingerübung von Schönwetterschreibern abgetan wurde, war sicherlich ein Fehlschluss. Es existieren so viele großartige Reportagen, die komplett frei von Kitsch sind. Und ja, ich würde behaupten, dass diese Texte allesamt eine ausgeprägte Metaebene besitzen. Warum? Weil die Metaebene ein notwendiges Qualitätsmerkmal ist – keine gute Reportage kommt ohne sie aus.  Geschichtenerzähler sind wie Wissenschaftler – Sie machen Zusammenhänge sichtbar Um zu verstehen, warum die Metaebene so wichtig ist, hilft etwas Storytelling-Theorie. Eine Geschichte, das ist, wie Reportagen-Lehrmeister Jon Franklin („Writing for Story“) betont, vor allem eine Entwicklung. Dynamik ist essenziell: Der Protagonist befindet sich in einer konflikthaften Situation, die er zu meistern versucht. Im Idealfall scheitert er zunächst, findet in der Niederlage etwas über sich selbst heraus und ist schließlich in der Lage, den Konflikt zu lösen (Auch wenn die Realität natürlich nicht immer dem Ideal gehorcht, so lässt sich dieses Muster in Abwandlungen doch sehr häufig finden – man muss nur wissen, dass man danach suchen muss). Insofern machen gute Geschichtenerzähler etwas sehr Ähnliches wie Wissenschaftler an einer Universität – zumindest in qualitativen Forschungszweigen: Sie machen kausale Zusammenhänge sichtbar. Eine Reportage beginnt häufig mit einer abhängigen Variablen: In einem Zeitungsbericht lesen wir von einem Boxer, der im Ring gestorben ist (man denke an die großartige Reportage „Der Preis eines Traumes“ von Klaus Brinkbäumer) oder von einem ehemaligen Neonazi-Aussteiger, der einen Integrationspreis gewinnt. Abhängige Variablen sind Ereignisse, die durch vorangegangene Ereignisse ausgelöst wurden. Wenn wir als Schreiber unsere abhängige Variable definieren, blicken wir also automatisch in die Vergangenheit: Wir begeben uns auf die Suche nach der Ursache, nach der unabhängigen Variablen. Diese kann dann wieder eine andere unabhängige Variable vorausgehen, bis wir es mit einer Kette von Variablen zu tun haben, die sich gegenseitig beeinflussen. Wenn wir dieser Variablenkettung bis zum Anfang folgen, begreifen wir irgendwann den Grundkonflikt, der sie überhaupt ausgelöst hat.  Meine Definition von Metaebene: Die Variablen finden, die universell wirken Das alleine reicht aber noch nicht für eine wirklich gelungene Reportage. Solange sie reine Erzählung ist – die Wiedergabe einer Kette von Variablen von unmittelbarer Bedeutung also – bleibt sie isoliert. Ihr Fokus ist verkürzt, weil sie die Strukturen ausblendet, in denen sich der Protagonist bewegt. Diejenigen, auf die mein Protagonist gar keinen Zugriff hat, die a priori gesetzt sind, die die Kausalkette permanent beeinflussen, ohne dass der Handelnde selbst einen Einfluss auf sie hat: Die menschliche Psyche als neuronaler Prozess, die Weltwirtschaft, rassistische Stereotypen in einer Gesellschaft – jedes übergeordnete System also. Die daraus abgeleiteten Variablen sind es, die den Protagonisten meiner Geschichte mit mir als Leser in eine Verbindung setzen, weil uns diese übergeordneten Mechanismen alle betreffen. Den Variablenraum zu erweitern, hin zu den unabhängigen Variablen, die universell wirken, das ist meine Definition der Metaebene.  Ohne Metaebene keine Erkenntnis Bei jeder Geschichte stellt sich die Frage: Betrifft mich das, was dort steht? Warum sollte ich einen Text über einen Menschen in einem mir unbekannten Land lesen, der sich mit einem Konflikt rumschlägt, der mir vollkommen fremd ist? Wenn es keinen Anker der persönlichen Betroffenheit gibt, werde ich wahrscheinlich weiterblättern. Das Schicksal der Bauernfamilie in der Zentralafrikanischen Republik kann noch so erschütternd sein, sie ist journalistisch erst einmal vollkommen uninteressant – Dramen gibt es immer und überall. Interessant wird die Bauernfamilie für mich, wenn ich begreife, dass ihr Elend die direkte oder indirekte Folge von Makrostrukturen ist – von unfairen Marktdynamiken beispielsweise. Das Schicksal der Familie wird dadurch verallgemeinerbar, es steht für viele andere, denen es genauso geht. Abhängig davon, was der eigentliche Konflikt der Story ist (Das physische Leid des Hungers? Oder die fehlende Wertschätzung der Dorfbewohner?), hat der Protagonist unterschiedliche Möglichkeiten, den Konflikt mit seinen beschränkten Mitteln lösen (vielleicht gelingt es dem Bauern, die Dorfbewohner dafür zu sensibilisieren, wie wichtig die lokale Landwirtschaft ist. Er bekommt Wertschätzung und/ oder muss nicht mehr Hunger leiden). Gegenüber einiger unabhängiger Variablen, die permanent auf sein Handeln einwirken, bleibt er aber machtlos (der Druck auf den Marktpreis durch billige Fleischexporte aus Europa beispielsweise). Wenn die Metaebene fehlt, bleibt die Geschichte unvollständig, weil sie den Leser ohne Learning zurücklässt.  Das Mittel gegen den leidigen Kitsch Recht hat Alexander, wenn er Journalisten vorwirft, ihre Geschichten durch vorgefertigte Hypothesen zu sehr in Schemata pressen zu wollen, was letztlich dazu führe, dass ständig dasselbe lauwarme Klischee reproduziert werde. Er schreibt, dass die Reportage die einzige journalistische Form sei, die den Leser als „das empathische Wesen anspricht.“ Soweit bin ich bei ihm. Auch, wenn er schreibt, dass die Reportage eine Art Testlauf für das eigene Leben sei, indem der Leser etwas über die „menschliche Natur innerhalb seines politischen, gesellschaftlichen, ökologischen, kulturellen Umfelds“ lernt. Ja, eine Reportage, deren Universalität möglichst absolut ist, die mich in meinem Menschsein ergreift, ist das Ideal. Aber gerade diese Reportage lebt von der Metaebene, also dem Herausarbeiten jener universellen Mechanismen, die den Leser mit dem Gelesenen verbinden. Der Leser muss begreifen, was diese „politischen, gesellschaftlichen, ökologischen und kulturellen“ Umfelder ausmacht, welche Kausalketten also von außen auf den Protagonisten wirken. Natürlich droht beim Wechsel zwischen Handlungs- und Metaebene die Holzschnittartigkeit – und ja, lässt sich der Autor zu sehr durch seine zuvor getroffenen Annahmen leiten, statt die Metaebene immer wieder mit dem Erlebten abzugleichen, dann verliert das Geschriebene seine Originalität.  Das ist allerdings eine Binsenweisheit: Wer keine Neugier zeigt, sondern Weltbilder belegen will, wird keine Momente der Wahrhaftigkeit erzeugen, sondern bloßen Kitsch. Dieses Haltungsproblem dürfen wir aber nicht der Metaebene ankreiden. Wahre Meister der Reportage verstehen es, die Ebenen möglichst geschickt und subtil miteinander zu verflechten. Komplett auf die Metaebene zu verzichten würde dagegen heißen, das Ideal der Universalität aufzugeben. Die Geschichte droht, trivial zu werden – und damit bedeutungslos. Nicht die Metaebene ist schuld am Kitsch. Sondern die fehlende Ergebnisoffenheit mancher

Der Schwachsinn der Metaebene

Journalisten behaupten, eine gute Reportage brauche eine Metaebene. Unser Autor Alexander Rupflin aber glaubt, eine Geschichte muss vor allem destilliert werden, um eine menschliche Wahrheit auszudrücken. Und Georg Büchner schrieb: „Geht einmal euern Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“ – Vorletztes Weihnachten sagten sie mir, die Reportage sei eine Erfindung. Das war hart. Das war die Zeit des großen „Fall Relotius“, da geriet die ganze Gattung in Verdacht, ein paar Journalisten erklärten, aus so einem Art Apocalypse-Now-Gefühl heraus, die Reportage sei ja nichts anders als eine Kurzgeschichte mit Wirklichkeitsbehauptung. Und dabei fanden sie für ihre Anklage auch noch ziemlich gute Belege. Umso länger ich darüber nachdachte, umso richtiger fand ich den Eindruck der Dramaturgie-Nihilisten, Reportagen sind häufig Kitsch – aber das liegt nicht an der Gattung, sondern an der Forderung nach „Metaebenen“. Vorab will ich kurz deutlich machen: Die Reportage zeigt nur einen Ausschnitt, einen Schnappschuss. Es ist nicht ihre Aufgabe, ein Ganzes zu präsentieren. Es geht nicht darum, vollständig zu berichten oder den totalen Blick auf etwas zu gewähren. Es geht – wie es Gotthold Ephraim Lessing so schön zur Sprache bringt – um den „Fruchtbaren Augenblick“. Dieser Fruchtbare Augenblick ist der Moment des Besonderen, der das Allgemeine darstellt. Ähnlich wie ein Foto, ein Gemälde, die griechische Plastik. Es zeigt einen Ausschnitt, der über sich als Moment hinaus geht und zugleich zurückverweist. Dadurch wird dem Leser der Reportage ein Phänomen symbolisch schaubar und im Idealfall sogar begreifbar. Die Redaktionen wissen um die Macht der Metaebene Was ich damit meine: Reportagen können komplexe Zusammenhänge weder erläutern noch erklären, aber sie können als Schlaglicht einen Moment der Vergangenheit erhellen. Das geschieht durch „vollkommene Unmittelbarkeit“ wie Siegfried Kracauer über die (Reportage-)Fotografie schrieb. Dadurch erweckt die Reportage einen bereits verklungenen Moment der Wirklichkeit im Inneren des Lesers noch einmal zum Leben – und lässt den Leser damit, zumindest mittelbar erleben. Wiederum das führt zur Selbstwahrnehmung und wir als Leser werden bewusst in Bezug zur Welt und dessen Geschehen gesetzt. Mit der Fantasie des Lesers, seines individuellen Wissens und seiner Interpretationsfähigkeit, erweitert sich durch die Reportage dessen Kosmos. Die Redaktionen wissen um diese Macht und versuchen deren Kraft einzusetzen, indem sie für die Reportage von uns Autoren eine „Metaebene“ fordern. Eine Metaebene im Journalismus bedeutet in etwa, eine allgemeingültige Aussage, die über der konkreten Geschichte, dem beschriebenen Einzelfall steht, und dem Leser implizit mitgegeben wird. Wenn ich früher Journalisten nach einer exakten Definition der Metaebene gefragt habe, bekam ich nie eine klare Antwort. Der Grund ist vermutlich, weil es keine natürliche Metaebene gibt. Bei Metaebenen klingt der Mythos der Reportage an Ich will es für diesen Text einmal selbst versuchen: Die Metaebene meint die Reflexionsebene, sie ist nicht die Ebene des Themas. Mittelbar nimmt der Text auf dieser Ebene auf sich selbst Bezug. (Zu offensichtlich geschieht das manchmal mit Phrasen wie „Das ist eine Geschichte über …“) Auf der Metaebene klingt etwas an, das ich als „Mythos“ bezeichne: Das Grundlegende, die innerste Bedeutung des Erzählten, einer Wahrheit die tiefer liegt, als das rein Faktische. Etwas, das nicht durch Studien belegt wird. Hier betreibt der Autor Weltdeutung und wird unter Umständen allegorisch. Es ist der Mythos, der durchs Denken einer Metaebene der Reportage eingehaucht werden soll. Ich fürchte aber, dass genau diese Denkweise ihr Ziel verfehlt und statt die Wahrheit eines menschlichen Mythos zu formulieren, Klischees produziert. Klar, reine Erlebnisse haben zuerst keine Metaebene, weil natürlich nichts geschieht als ein Symbol für etwas Allgemeingültiges. Also wird die Metaebene in aller Regel künstlich am Schreibtisch oder in der Redaktionskonferenz entworfen – auch, bevor die Recherche begonnen hat. Es sind Ideen, Interpretationen, Vorurteile. Klassische Stereotypen, Denkmuster und Erwartungen – sie müssen im Anschluss der Wirklichkeitsprüfung von uns Reportern standhalten. Im übelsten Fall kommen dadurch die Reportagen zustande, deren Verlauf ich schon kenne, sobald ich den Teaser gelesen habe. Das klingt zunächst nach einer allgemeinen Kritik an mangelnder Textqualität, die wiederum vom genauen Ausloten der Zu- und Umstände abhängt. Aber mir fallen diese vorhersehbaren Geschichten ausgerechnet bei den ganz großen Magazinen auf. Und natürlich, Erfolg gibt deren Redaktion recht. Die Denkweise in sogenannten Metaebenen, die in Wahrheit weniger Ebenen, als vielmehr Schubladen sind (warum genau, dazu später), entspricht unseren plakativen Lesererwartungen. Als Leser wollen wir keine allzu großen Überraschungen, es darf ein paar Wendungen und Drehungen geben, um Spannung zu erzeugen, ob wir mit unseren Erwartungen auch wirklich richtig liegen, aber am Ende muss die Geschichte doch so gebaut sein, dass sie uns als Leser befriedigt. Zumindest, wenn man als Macher dieser Geschichten kommerziellen Erfolg haben möchte – und Redaktionen brauchen kommerziellen Erfolg. Die gute Reportage ist immer auch Selbstbetrug Der Grund für das Gelingen dieser Masche ist unsere Hoffnung als Rezipienten eines Mediums, durch dieses uns die Welt begreifbarer zu machen, rational und beurteilbar. Darum braucht eine Geschichte, die wir als positiv empfinden, eine innere Kausalität – ganz anders als die Wirklichkeit da draußen, die für uns meist unkontrollierbar und chaotisch scheint. Eine gute Geschichte spendet Trost, selbst wenn ihr Stoff grausam oder tragisch ist. Denn wir verstehen wenigstens, warum etwas so passieren musste – oder wir glauben zumindest, zu verstehen. Wir betrügen uns selbst und das müssen wir, um Erkenntnis zu erlangen. Durch diesen Widerspruch zwischen Anspruch der Reportage, der Wirklichkeit nahezukommen und unseren Erwartungen an die gute Geschichte, entstehen diese ungewollten Fälschungen (was mit dem vorsätzlichen Betrug von Claas Relotius nichts zu tun hat!). Natürlich kann die Reportage die Wirklichkeit nie abbilden, diesen Anspruch wird ein Text egal welcher Gattung nicht erfüllen und sollte er auch nicht, ihn würde niemand lesen. Das Abbilden der Wirklichkeit im Text funktioniert schon allein deswegen nicht, weil der Autor seine erlebte Wirklichkeit in Zeichen abstrahiert, die erst im Kopf eines dem Autor meist fremden Lesers, mit völlig anderem Erfahrungsschatz und Denkweise, wieder eine konkrete Bedeutung bekommt. Eine Reportage ist immer eine Transformation der subjektiv erlebten Wirklichkeit des Autors in eine subjektiv gedachte Wirklichkeit des Lesers. Dabei findet eine Verständigung und ein Verstehen statt, gleichzeitig verlaufen die beiden Wirklichkeitsebenen von Autor und Leser niemals deckungsgleich.