Hundertjährige haben viel zu erzählen. Und Kinder haben viele Träume. Unser Autor Gabriel Proedl hat für die Titelgeschichte des Magazins CHRISMON mit drei Hundertjährigen aus Hamburg, Leipzig und Berlin gesprochen.
Erschienen in Chrismon, Juni 2020 / Fotos: Magdalena Stengel
Charlotte Oberberg, Berlin
In meiner Rente gründete ich eine Kabarettgruppe. Wir traten in Pflegeheimen und Pfarrsälen auf und hatten viel Spaß gemeinsam. Die Stücke schrieb ich selbst, es war ein Blick in die Zukunft, eine Utopie: Ich schrieb von führerlosen Bussen und davon, dass die Postämter geschlossen würden. Beides war damals unvorstellbar – ich schrieb es, um mich zu amüsieren. Es war ein Hirngespinst! Jetzt ist vieles davon Wirklichkeit geworden. Eine Viruskrise wie die Corona-Zeit hatte ich aber nicht vorhergesehen. Wir machten schließlich Kabarett, nicht griechisches Drama.
Ich bin im Jahr 1923 im Bezirk Kreuzberg in Berlin geboren und lebe bis heute hier. Von der Dach- terrasse meiner Wohnung in der siebten Etage kann ich die leere Charlottenstraße sehen. Die Menschen gehen wegen des Virus nicht mehr raus. Ein ausgestorbenes Berlin-Kreuzberg habe ich noch nie erlebt, nicht einmal zu Kriegszeiten. Hier im Viertel tut sich immer was – jetzt steht es still. Das macht mich nervös, denn immer wenn es Missstände gibt, will ich helfen: In den 1970er Jahren habe ich einen Syrer unterstützt, er bedankte sich am Ende mit einem Blumenstrauß bei mir und sagte, er verehre mich wie seine Mutter. Ich bin auch politisch engagiert und war stellvertretende Bezirksverordnetenvorsteherin.
Jetzt kann ich nicht helfen, ich sitze zu Hause, löse Rätsel oder lese. Ich kann für mich selbst sorgen, dafür bin ich dankbar. Ich habe immer danach gelebt, ein hohes Alter erreichen zu können. Jeden Tag habe ich meine acht Stunden geschlafen und auch sonst auf mich geachtet. Es macht so viel Freude, am Leben zu sein, warum sollte ich es nicht ausreizen? Die Vergangenheit ist mir nichts wert, ich lebe in der Gegenwart und schaue in die Zukunft. Vielleicht ist es mir deshalb immer so gutgegangen? Weil ich lieber nach vorne schaue, als zurückzuschauen und zu jammern?
Während meine Freunde im Alter prüde und bieder geworden sind, will ich noch Schick in meinem Leben haben. Oft bekomme ich Komplimente im Fahrstuhl oder auf der Straße. Mit meinem Stil und meiner Art wollte ich nach dem Tod meines Mannes vor fünfzehn Jahren einen weiteren Partner finden. Ich war erst 82 und brauchte jemanden zum Knuddeln und Verreisen! Leider fand ich niemanden. Ich sage, was ich denke, und das passt nicht jedem Mann. Und bevor ich dann irgendjemanden in der Wohnung sitzen habe, bin ich lieber alleine – ich komme gut mit mir selbst aus.
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