Was heißt hier ‚autistisch‘?
Autisten – Nerds mit Superfähigkeiten, empathielose Eigenbrötler: So weit das Klischee. Unser Autor Manuel Stark ist Autist. Er würde da gern etwas klarstellen… Erschienen in DIE ZEIT, 06.08.2020 Sie kennen bestimmt dieses Gefühl, keinen Zugang zu finden zu einem Menschen oder einer Gruppe, egal wie sehr man sich bemüht. Dann tut sich eine Kluft auf, zwischen einem selbst und den anderen. Ein Asperger-Autist fühlt sich immer so, jeden Tag. Sehe ich dagegen im Fernsehen Sendungen zum Thema Autismus, begegnen mir Menschen mit Superfähigkeiten, die das Wetter des kompletten vergangenen Jahres herunterbeten können oder komplizierteste Exponentialgleichungen lösen, während sie am Alltag scheitern. Im Spiegel lese ich, der ehemalige Wirecard-Chef habe sich „abwechselnd esoterisch und autistisch“ gegeben. Von „introvertierten autistisch verkünstelten Stararchitekten“ ist in der Süddeutschen die Rede. Und im Focus wird Facebook-Gründer Mark Zuckerberg als „gnadenlos stur, sozial schwierig, fast autistisch“ beschrieben. Das Wort „autistisch“, es wird oft benutzt und selten verstanden. Ich bin Autist. Superkräfte besitze ich keine. Mein Mathe-Abi habe ich gerade so bestanden, Nähe zu Menschen ist mir wichtig, und an das Wetter erinnere ich mich nur, wenn es in Hamburg mal wieder eine Woche durchregnet. Kein Wunder, extreme Inselbegabungen wie ein Über-Gedächtnis sind Teil des sogenannten Savant-Syndroms – gerade einmal die Hälfte der nur etwa hundert bekannten Savants ist autistisch. Autisten hingegen gibt es gar nicht so wenige. Studien gehen davon aus, dass sich unter hundert Menschen ein bis zwei aus dem autistischen Spektrum befinden. In Deutschland wären das etwa eine Million Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert Asperger im ICD-10 unter F84.5 als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Auf dem Bildschirm meines Laptops erscheinen Begriffe wie Mutation oder Defekt, ich muss mich bei jedem Link und jeder Studie mehr überwinden. Die schreiben über Menschen wie mich: Krank. Gestört. Fehlerhaft. Als Kind hatte ich mich oft so gefühlt… […] Gesamter Text in DIE ZEIT oder online auf zeit.de
Mein Mentor macht Schluss
Ohne meinen alten Grundschullehrer wäre mein Leben anders verlaufen. Im größten Gebrüll lehrte Heinrich Zweyer den Respekt vor den Stillen. Was macht so ein Lehrer ohne seine Kinder? Ein Besuch am letzten Arbeitstag. Erschienen in DIE ZEIT, 09.01.2020 Es gibt Lehrer, die begeistern sich für ihr Fach, nicht für Kinder. Andere stellen Regeln auf und ahnden Verstöße mit Nachsitzen oder Strafarbeit. Herr Zweyer war anders. Er nahm Ideen ernst, dachte über Einwände nach. Er glaubte nie, es als Erwachsener sowieso besser zu wissen. 2013 fragte das Allensbach-Institut 536 Lehrer, wie viel Einfluss auf ihre Schüler sie zu haben glauben. Fast die Hälfte gab an: wenig oder keinen. Meine Erfahrung widerspricht ihrem Selbsturteil: In der dritten Klasse beobachtete ich immer wieder, wie ältere Schüler aus dem Gymnasium und der Realschule unsere Klasse besuchten. Sie nahmen meinen Lehrer in den Arm, nach dem Unterricht redeten sie mit ihm über Schule und Noten, Streit mit den Eltern und erste Probleme in der Liebe. Ich war eines dieser Kinder, die so lange »Warum?« fragten, bis das Gegenüber aufgab. Zweyer hat selten aufgegeben. Als ich in der vierten Klasse wissen wollte, woher Wasser kommt und wieso es nicht weniger wird, obwohl es so viele trinken, sprang er vom Mathe- Unterricht in die Heimat- und Sachkunde, ließ die Arbeitshefte wechseln und malte Skizzen an die Tafel. Den Kreislauf des Regens. Ähnliche Bilder sah ich das nächste Mal in der sechsten Klasse – Erdkunde-Unterricht. Der Inhalt ähnelte sich, nur die Wörter waren komplizierter. John Hattie, einer der einflussreichsten Bildungsforscher, sagt: Der Lehrer bestimmt, was Schüler lernen. Andere Einflüsse sind zweitrangig bis irrelevant. Ein Lehrer müsse den Einzelnen wahrnehmen und rasch entscheiden, wann er streng reagiert und wann mit Humor. In Hatties Thesen erkenne ich den Lehrer meiner Kindheit, der mit Liedern einsprang, wenn wir Schüler überfordert waren von Englisch oder Mathe, und der nur laut wurde, wenn man auch nach der dritten Ermahnung noch quatschte. Er sprach schnell und sprang zu Metaphern, wenn es half. Heinrich Zweyer war ein Gedankentänzer. Heute stolpern seine Sätze manchmal… […] Gesamter Text in DIE ZEIT oder online auf zeit.de
Meine Oma ist eine ganz normale Rentnerin. Warum geht sie putzen?
Helga Hofmann (75) bezieht eine Rente in Höhe des deutschen Durchschnitts. „Heute schmerzt das Geld schon, wenn ich ein Glas Wein bestelle“, sagt sie. Und reinigt die Wohnung einer anderen Frau, um ihre Teilhabe am sozialen Leben nicht vollkommen zu verlieren. (Veröffentlich in: DIE ZEIT) Textausschnitt: Sie ist 75 Jahre alt und für mich der Inbegriff von Eleganz: Jeden Morgen nach dem Aufstehen dreht sie sich kleine Wellen in ihre blond gefärbten Haare und schminkt sich, immer dunkel, um ihre Augen zu betonen, die schon lange von Blau zu einem hellen Grau verblasst sind. Sie trägt ihren Schmuck in Gold, als Kette um den Hals oder als Reif ums Handgelenk. Wenn sie spricht, zeigt sie Bildung, ans Französische angelehnte Fremdwörter drängen so häufig in ihre Erzählungen, dass ich mir als Kind angewöhnt habe, vor allem auf den Kontext des Gesagten zu achten. Heute trägt sie blaue Jeans und einen schwarzen Pullover, beides ist ihr zu weit und wirft Falten, ihren Schmuck hat sie zu Hause gelassen. Nur geschminkt ist sie auch jetzt. »Ein bisschen strahlen möchte ich schon«, flüstert sie mir zu. Es ist Mittwoch, zehn Uhr, und wie jeden Mittwoch, Punkt zehn, klingelt Helga Hofmann an der Tür des Mehrfamilienhauses in einer Seitenstraße des oberfränkischen Städtchens Bad Staffelstein. Wie jedes der Häuser hier besitzt auch dieses einen kleinen Garten, wintergrüne Pflanzen, eigene Parkplätze – Dorfidylle, die mit den Grundstückspreisen einer Bäderstadt bezahlt werden will. Es knackt in der Sprechanlage, die Tür summt. Erster Stock links. Uns öffnet eine kleine Frau mit lichtem weißem Haar, sie geht leicht gebückt. »Pünktlich wie immer«, sagt sie und lächelt. Oma wendet sich zum Bad und greift nach zwei pinken Gummihandschuhen, die sie aus einem dunkelblauen Plastikeimer zieht. […] Link: https://www.zeit.de/2018/20/rente-putzen-job-geld-altersarmut
Geteiltes Leid
Ein Ehepaar verliert sein einziges Kind durch einen Motorradunfall. Die Mutter will das Motorrad loswerden, um das Unglück verarbeiten zu können. Der Vater will es reparieren – aus dem gleichen Grund. (Veröffentlicht in: Süddeutsche Zeitung Magazin) Textausschnitt: 2. AUGUST 2015 Die Großmutter hätte aufs Motorrad spucken sollen. Doch genau wegen dieser Angewohnheit wollte Sven sie nicht mit seiner Maschine besuchen, die Großmutter hatte schon auf sein erstes Auto gespuckt, um allzeit gute Fahrt zu wünschen. Svens Eltern, Jörg und Elfi Drenkard, fahren also ohne ihn. Erzählen der Großmutter, dass Jörg und Sven gemeinsam den Motorradführerschein gemacht haben. »Mach dir keine Sorgen«, sagt Jörg Drenkard am Kaffeetisch zu seiner Mutter. »Sven ist vorsichtig. Der bleibt lieber zehn Stundenkilometer unter als über dem erlaubten Limit. Da passiert nichts.« Zu Hause macht Sven sich für eine Tour mit dem Motorrad bereit. Ein Freund begegnet Sven eine Stunde später zufällig an einer Straßenbiegung kurz vor der Ortschaft Würgau in der fränkischen Schweiz, zwanzig Kilometer östlich von Bamberg. Sven steht am Straßenrand, seine weiße Kawasaki liegt neben ihm im Gras. Er ist gestürzt. Der Freund will wissen, ob etwas passiert sei. Nein, sagt Sven. Er wirkt wütend. Es sei besser, mit dem Weiterfahren etwas zu warten, rät der Freund. Erst mal runterkommen und warten, ob alles okay sei. Stattdessen greift Sven nach seinem Helm. Abschiedsgruß. Dann fahren beide in entgegengesetzte Richtungen weiter. Warum Sven stürzte, bleibt unklar. Vielleicht ist er einem Tier ausgewichen oder zu scharf abgebogen und mit dem Vorderrad weggerutscht. Fest steht, dass Sven nur wenige Minuten weiterfährt, bergab durch das Dorf Würgau, etwa einen Kilometer entfernt, bevor er erneut stürzt. Als Svens Eltern von der Großmutter zurück nach Hause kommen, rennt die Nachbarin auf sie zu. Die Polizei war da. Worum es geht? Weiß sie nicht. Im Haus klingelt das Telefon. Es ist Nadine, Svens beste Freundin. Sie hat auf dem Onlineportal der Regionalzeitung von einem Unfall gelesen. Der 21 Jahre alte Fahrer eines Motorrads, Marke Kawasaki, beschleunigte kurz nach dem Ortsschild Würgau auf der B22. Die zwanzig Jahre alte Fahrerin eines VW vor ihm bog scharf nach links ab. Das Motorrad prallte gegen das Heck des Autos. »Wo ist der Sven?«, ist Nadines erste Frage. »Der Sven ist mit dem Motorrad unterwegs «, antwortet der Vater. »Wo unterwegs?« »Am Würgauer Berg.« »Es tut mir leid, es tut mir so leid!« Nach dem Telefonat geht Jörg Drenkard in die Küche, dann ins Arbeitszimmer. Zieht seine Hose aus und wieder an, ohne zu wissen, wieso. Er setzt sich auf die kleine Holzbank vor dem Haus. Warten. Ein Polizeiwagen stoppt am Straßenrand, zwei Polizisten und ein Sozialhelfer steigen aus. »Sagt mir nicht, dass er tot ist«, sagt der Vater. »Doch.« Elfi Drenkard sitzt trotz der Nachricht bis 21 Uhr auf der Couch und wartet, um 21 Uhr wollte ihr Sohn zu Hause sein. Er war doch immer pünktlich. […] Link: https://www.sueddeutsche.de/leben/eine-familie-trauert-um-den-sohn-geteiltes-leid-1.3796876?reduced=true