Wer ist eigentlich Generalleutnant Tanneberger?
Mein alter Busfahrer – ein geheimer Verbündeter von Wladimir Putin? Klingt unrealistisch, dachte unser Autor Gabriel Proedl. Aber ist es das auch? Für DIE ZEIT hat er sich auf eine Spurensuche begeben. Erschienen in DIE ZEIT, 31.3.2021 Mir war Jörg Tanneberger schon als Kind suspekt. Und als er mir jetzt sein Büro zeigt, muss er merken, dass sich unzählige Fragen bei mir aufgestaut haben. Er rollt seine Zunge, beißt darauf, seine Augen kneift er zusammen. Er gibt ein spitzes Lachen von sich, wie er es oft tut, wenn er jemanden in Staunen versetzt hat. „Es ist nicht das, wonach es aussieht“, sagt er. Auf seinem gläsernen Schreibtisch steht ein Monitor mit Bildern einer Überwachungskamera, daneben ein Satellitentelefon. Tanneberger lässt sich in seinen Bürostuhl fallen und erzählt: Wladimir Putin und ich hatten damals eine Absprache. Ein Treffen von ihm und Papst Franziskus stand bevor. Er wollte die Sanktionen gegen Kuba lockern und fragte mich, ob er mit Franziskus aushecken soll, sich gemeinsam mit Obama zu treffen. „Mach das“, sagte ich, „das ist deine Chance.“ Ich kenne Tanneberger, seit er mich zur Schule brachte und wieder zurück. Er ist Busfahrer der Linie 30 in meiner Heimatstadt Graz. Mit seinem sächsischen Akzent war er der Sonderling in dem Bezirk. Seine Uniform war schon damals anders als bei den anderen Busfahrern, nicht weiß-blau, sondern weiß-gold. Als ehemaligem Offizier stehe ihm das zu, sagte er. Vor allem aber fiel er auf, weil er mit den Fahrgästen das Gespräch suchte. Er unterhielt sie, half, gab Ratschläge. Ausgewählten Stammkunden erzählte er seine Lebensgeschichte: Generalleutnant in der Nationalen Volksarmee der DDR sei er gewesen, in Dresden habe er Putin kennengelernt – sie seien bis heute befreundet. Wenn diese Stammkunden mitfuhren, lehnten sie an der Fahrerkabine des Busses und fragten Tanneberger, wie es seinem „großen Bruder“ gehe. Dann erzählte er, von Putin und von seinen Aufträgen, die er neben dem Busfahren für den russischen Präsidenten erledigt hat. […] Link zur ganzen Reportage bei DIE ZEIT.
Liebe, Stift, Papier
Als Dreizehnjähriger schrieb unser Autor Gabriel Proedl einen Brief an ein Mädchen, Dora. Eine Antwort erhielt er nie. Jetzt, fast zehn Jahre später, will er wissen, warum. Und warum ihn das Briefeschreiben bis heute nicht losgelassen hat. Er kontaktiert alle seine bisherigen Briefpartner, und am Ende auch Dora. Erschienen in ZEIT Christ&Welt, 27.1.2021 Ich muss dreizehn gewesen sein, als mein Lehrer in der Französischstunde fragte, wer von uns regelmäßig Briefe schreibe. Keiner meldete sich. Und wer würde gerne Briefe bekommen? Dora, eine Mitschülerin, streckte ihren Rücken beim Aufzeigen durch, um die Hände der anderen zu überragen. Ich war seit Wochen in Dora verliebt. Sie war gut in der Schule, ohne ständig zu lernen, war sportlich, blitzgescheit, beliebt und dennoch reserviert; sie war keine, die allen um den Hals fiel. Ich versuchte immer wieder, mit ihr zu plaudern, umarmte sie, wann immer es ging – und schrieb ihr kurz nach der Französischstunde meinen ersten Brief. Eine Antwort bekam ich nie. Aus uns wurde nichts, doch die Liebe zum Briefeschreiben ist gewachsen. Jetzt bin ich zweiundzwanzig und schreibe immer noch, an Freunde und Bekannte – meist bekomme ich eine Antwort. Ich mag diesen niedergeschriebenen Gedankenaustausch, das Warten auf die Erwiderung, das Tagebuchschreiben mit Dialogpartner. Früher kannte ich kaum jemanden, der Briefe schrieb, doch jetzt, während der Pandemie, ändert sich das: Auf Twitter posten Jugendliche, dass sie ihren Großeltern schreiben, statt sie zu besuchen, kirchliche Einrichtungen veranstalten Briefschreibaktionen für Schulklassen an Altersheime, und mehrere Eltern erzählen mir, dass ihre Kinder schreiben, um mit Schulfreunden in Kontakt zu bleiben. Alle schreiben sie jetzt. Ich fühle mich wie der Fan einer Indie-Band, die gerade ihren Durchbruch hat. Ich bin mit dem Internet aufgewachsen, fand es unheimlich, aber auch faszinierend. Als Kind ging ich über den Computer ins Netz, googelte „Yeti“ weil ich nicht glauben wollte, dass es die Gestalt wirklich gab, und tatsächlich: ich fand Bilder. Dann, der Aufstieg des iPhones – das Internet war plötzlich immer dabei. SchülerVZ, Facebook, Instagram. Der Whatsapp-Messenger, chatten in Gruppen, oberflächliche Nachrichten, „wie geht’s, was machst?“ und oberflächliche Antworten, „eh gut, nix, du?“ Mit dem Briefeschreiben wollte ich dem entgegenhalten. Auf echtem Papier, mit echten Stiften schreiben, Entwürfe machen, bis jedes Wort seine Berechtigung hat. Dann dreimal falten, rein in den Umschlag, Briefmarke drauf und zum Briefkasten gehen. […] Link zum ganzen Artikel bei ZEIT Christ & Welt.
Das Gehen und das Von-uns-Gehen
Der Schriftsteller Julian Schutting hat einen letzten Wunsch: ein Tod im Spazieren. Er geht deshalb ständig umher, um die Chancen zu erhöhen. Wenn es sein muss, will er nachhelfen. Erschienen im Falter, August 2020 / Fotos: Katharina Gossow Julian Schutting sagt, er habe Ordnung gemacht. Er habe seine Bettdecke über das Geländer des französischen Balkons geschlagen und das Fenster geöffnet, seine Wollpullover im Einbaukasten verstaut und die Manuskripte am Parkettboden der winzigen Altbauwohnung sortiert – Stapel für Stapel, mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davonweht. „Als würden Sie gleich bei mir eintreten“, sagt er mir. Ich rufe nur an. Den Schriftsteller treffen kann ich erst nach der „Pestzeit“, wie er die Corona-Pandemie nennt. Auch wegen ihr denkt er jetzt mehr an „die letzten Fragen im Leben“, sagt er: Wie verlässt man diese Welt? Oder wie entfernt man sich aus ihr? Mit zweiundachtzig denke man darüber nach. Wenn ihn die Kraft verlässt, will er mit Schlafmittel nachhelfen. All das erzählt er mir, noch bevor ich richtig fragen kann, wie es ihm geht. […] Der ganze Text in der gedruckten Ausgabe des Falter vom 26. August oder hier.
Was alte Leute zu erzählen haben. Und wovon Kinder träumen.
Hundertjährige haben viel zu erzählen. Und Kinder haben viele Träume. Unser Autor Gabriel Proedl hat für die Titelgeschichte des Magazins CHRISMON mit drei Hundertjährigen aus Hamburg, Leipzig und Berlin gesprochen. Erschienen in Chrismon, Juni 2020 / Fotos: Magdalena Stengel Charlotte Oberberg, Berlin In meiner Rente gründete ich eine Kabarettgruppe. Wir traten in Pflegeheimen und Pfarrsälen auf und hatten viel Spaß gemeinsam. Die Stücke schrieb ich selbst, es war ein Blick in die Zukunft, eine Utopie: Ich schrieb von führerlosen Bussen und davon, dass die Postämter geschlossen würden. Beides war damals unvorstellbar – ich schrieb es, um mich zu amüsieren. Es war ein Hirngespinst! Jetzt ist vieles davon Wirklichkeit geworden. Eine Viruskrise wie die Corona-Zeit hatte ich aber nicht vorhergesehen. Wir machten schließlich Kabarett, nicht griechisches Drama. Ich bin im Jahr 1923 im Bezirk Kreuzberg in Berlin geboren und lebe bis heute hier. Von der Dach- terrasse meiner Wohnung in der siebten Etage kann ich die leere Charlottenstraße sehen. Die Menschen gehen wegen des Virus nicht mehr raus. Ein ausgestorbenes Berlin-Kreuzberg habe ich noch nie erlebt, nicht einmal zu Kriegszeiten. Hier im Viertel tut sich immer was – jetzt steht es still. Das macht mich nervös, denn immer wenn es Missstände gibt, will ich helfen: In den 1970er Jahren habe ich einen Syrer unterstützt, er bedankte sich am Ende mit einem Blumenstrauß bei mir und sagte, er verehre mich wie seine Mutter. Ich bin auch politisch engagiert und war stellvertretende Bezirksverordnetenvorsteherin. Jetzt kann ich nicht helfen, ich sitze zu Hause, löse Rätsel oder lese. Ich kann für mich selbst sorgen, dafür bin ich dankbar. Ich habe immer danach gelebt, ein hohes Alter erreichen zu können. Jeden Tag habe ich meine acht Stunden geschlafen und auch sonst auf mich geachtet. Es macht so viel Freude, am Leben zu sein, warum sollte ich es nicht ausreizen? Die Vergangenheit ist mir nichts wert, ich lebe in der Gegenwart und schaue in die Zukunft. Vielleicht ist es mir deshalb immer so gutgegangen? Weil ich lieber nach vorne schaue, als zurückzuschauen und zu jammern? Während meine Freunde im Alter prüde und bieder geworden sind, will ich noch Schick in meinem Leben haben. Oft bekomme ich Komplimente im Fahrstuhl oder auf der Straße. Mit meinem Stil und meiner Art wollte ich nach dem Tod meines Mannes vor fünfzehn Jahren einen weiteren Partner finden. Ich war erst 82 und brauchte jemanden zum Knuddeln und Verreisen! Leider fand ich niemanden. Ich sage, was ich denke, und das passt nicht jedem Mann. Und bevor ich dann irgendjemanden in der Wohnung sitzen habe, bin ich lieber alleine – ich komme gut mit mir selbst aus. […] Alle Protokolle im Chrismon-Heft (Juni 2020) oder online hier.
Das Armenien der Seele
Zwei Männer mit demselben Vornamen: David. Sie nennen das gleiche Land ihre Heimat, Armenien. Und sie teilen einen Traum: die Besteigung des Ararat, des „heiligen Berges“. Seit 1921 beansprucht die Türkei das Gebirge für sich, der Ararat ist für die armenische Seite abgeriegelt. Er hat sich aber tief eingeschrieben in die armenische Seele – und verbindet auch David und David. Was sie trennt: der eine hat den Berg bestiegen, der andere will nicht sterben, ehe er es nicht getan hat. Ein Gespräch zwischen zwei Männern über die Sehnsucht, einmal ganz oben zu stehen. (Veröffentlicht in: DIE ZEIT) Ausschnitt: Meine Eltern kommen beide aus Westarmenien. Sie sind vor dem Genozid geflohen und mussten ihr eigenes Land verlassen. Ich muss als ihr Sohn für sie den Berg zurückholen. Das bin ich ihnen schuldig. Sie haben mir das Leben geschenkt, ich werde ihnen den Berg schenken. Was mich viel eher beschäftigt: Dieses Land liegt in der Hand unserer Kinder. Es soll ein Land werden, aus dem man nicht mehr ausreisen will, weil es so schön ist. Und weil es den Menschen so gut geht. Mich beschäftigt, dass Armenien seit dreißig Jahren ein eigenständiges Land ist, aber es einen großen Sozialabbau gab. Jetzt findet gerade ein Umbruch statt, ich habe sehr große Hoffnung. Auch, wenn du und ich wahrscheinlich nicht mehr richtig Teil dieser Veränderung sein werden. Hast du nie überlegt, auszuwandern? Ich bekomme sehr viele Angebote aus dem Ausland, will aber hierbleiben. Ich liebe das Land, ich liebe die Menschen. Ich will, dass meine Kinder und Kindeskinder hier aufwachsen können. Ich reise auch sehr gerne und sehr viel, aber das Schönste am Reisen ist für mich das Nachhausekommen. Ich bin noch nie verreist. Aber meine erste Reise soll der Gipfel sein. […] Link: https://www.zeit.de/2019/38/ararat-berg-vulkan-armenien-tuerkei
Ein Milliliter mehr Leben
Fridolin und Jonathan sind viel zu früh geboren. Auf der Intensivstation kämpfen sie sich in diese Welt – gespendete Muttermilch gibt ihnen die Chance, zu überleben. Eine Wissenschaftsreportage. (Veröffentlicht in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) Ausschnitt: Wolfram Kaiser ist wieder im Perinatalzentrum der Universitätsklinik Freiburg angekommen. Er kennt sich dort aus, verbringt jeden Tag mehrere Stunden auf der Station. Er kennt die Kabel und Computer, die Inkubatoren mit der Aufschrift „Geminus I“ und „Geminus II“, darin seine Zwillinge: Fridolin, der kleinere, links und Jonathan, der größere, rechts. In drei Monaten sollten sie auf die Welt kommen, seit drei Wochen sind sie da. Die beiden haben die Augen geschlossen: Im Mutterleib schwimmt man mit blindem Vertrauen. Mutter Petra Kaiser ist nach der Geburt erkrankt und kann ihre beiden Söhne nur selten sehen. Vater Wolfram ist deshalb oft bei ihnen, hält durch die Öffnungen des Inkubators ihre winzigen Hände, bürstet ihre Haare, salbt die Lippen, umhegt sie. Eine Stunde am Tag darf er sie auf seine Brust legen. „Känguruhen“ nennen das die Pflegerinnen, weil die Kinder dabei so körpernah geborgen sind wie im Beutel eines Kängurus. Eine Stunde am Tag, in der auch die Zwillinge einander wieder nahe sind. Für Wolfram Kaiser die schönste Zeit des Tages, wenn sie seine Liebe spüren, Sauerstoff durch zwei Röhrchen bekommen, Antibiotika über die Vene – und Muttermilch über einen Schlauch durch die Nase in den Magen. Muttermilch, weil es für ein Frühgeborenes nichts Besseres gibt, sagen Ärzte, Pfleger und Hebammen. Nur in wenigen medizinischen Fragen gibt es solche Einigkeit. […] Link: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/frauenmilchbanken-gespendete-muttermilch-hilft-fruehgeborenen-16338601.html Veröffentlich in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung