Aus einem „Freedom Day“ wurde nichts, stattdessen: noch ein Matschwinter mit Corona. Seit Beginn der Pandemie träumen wir von ihrem Ende – dabei sollten wir zyklisch denken.
Erschienen in Süddeutsche Zeitung, 25.12.2021
Ich hatte sehr früh eine Idee, wie alles endet. Es war April 2020, die Kinder von nebenan malten mit Fensterfarben in Regenbogenoptik „Bleibt zu Hause“ an die Fenster und ich spazierte mit meinem Vater stundenlang durch mittelfränkische Wälder. Dienstag war derselbe Mist wie Samstag, ich sah die Zeit nur an den Ästen voranschreiten, an denen allmählich Blätter sprießten, aber mein Vater versprach: „Du wirst sehen, wenn das vorbei ist, werden die Menschen feiern, wie sie es nie getan haben.“
Trotz Grundskepsis (mein Vater schwor bereits, er habe nie Marihuana geraucht und Trump würde nicht Präsident, für beides gibt es gesicherte Gegenbeweise), flackerten in meinem mit Zoomkacheln gefliesten Hirn Lampions, Lichterketten und ins Abendrot gereckte Champagnergläser auf. In einer Zeit, in der man nicht wusste, ob jemand eine Wodkafahne oder sich die Hände desinfiziert hat, stellte ich mir vor, wie unser Nachbar meine Mutter umarmte, obwohl sie seit zwei Jahren einen Reichskrieg elsässischer Ausmaße um 15 Zentimeter Gartengrundstück führten. Er würde mit einem fränkischen Bocksbeutel (Würzburger Silvaner) runterkommen, seinen Filzhut abnehmen und uns beschwipst zuzwinkern, man müsse den Paragraf 30, Absatz 1 des Bayerischen Grundstücksverkehrsgesetzes ja nicht so ernst nehmen.
In einer Zeit, in der sich Regionalbahn-Passagiere vor der Ausgangstür herumdrückten, als speie der Türknopf Feuer, stellte ich mir vor, wie ich als Hobby-Portier dann aussteigenden Fahrgästen zum Abschied die Hand schüttelte. Ich träumte von dichten Kassenschlangen, in denen sich die Kanten der Tiefkühlpizzas fast liebevoll in den Rücken des Vordermanns bohrten. Ach, das ganze Land war ein einziges großes Fest, die Deutschen trauten sich von den Bierbänken runter und tanzten auf der Straße, ganz ohne drei Promille, „Fliegerlied“ oder „Hölle Hölle Hölle“, sie tanzten zu Peter Sarstedts „Where Do You Go to My Lovely“ , der Song lief in Homburg wie in Finsterwalde, und da ward Liebe zwischen allen Völkern, sogar zwischen Schalke und Dortmund.
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