Was aus ihrem Hass wurde

Erschienen im ZEIT Dossier, 12.10.2023/ Foto: Dietmar Gust Deutschland, Anfang der Neunziger: Neonazis gehören vielerorts zum Straßenbild. Sie jagen Migranten, zünden Flüchtlingsheime an, verprügeln linke Jugendliche. Ein Prozess in Koblenz führt zu den Skins von damals – und zu der Frage: Haben sie sich gewandelt? Sie begegnete ihm im Sommer 2007, auf einem Grillfest bei jemandem, mit dem sich ihr damaliger Freund herumtrieb. Sie saß auf einer Bierbank, als der schlanke Mann mit Kappe und Hornbrille neben ihr Platz nahm. Zunächst hätten sie kein Wort miteinander gesprochen, sagt sie heute. Doch dann habe er diesen Satz fallen gelassen: “Erinnerst du dich an den Brandanschlag in Saarlouis-Fraulautern? Das war ich, und sie haben mich nie erwischt.” Der Mann habe gelächelt. Sie habe danach nicht groß darüber nachgedacht. Bis zum November 2019. Da habe sie sich plötzlich wieder an die Begegnung erinnert. Auf Facebook sei sie zufällig auf einen Medienbericht gestoßen, in dem es um einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim im Stadtteil Fraulautern ging. So habe sie erfahren, dass dabei im September 1991 ein Mensch getötet worden war, der Ghanaer Samuel Kofi Yeboah. Ihr sei klar gewesen: Ich muss zur Polizei.  Während die Zeugin all das vor dem Oberlandesgericht Koblenz erzählt, verzieht der Mann auf der Anklagebank keine Miene. Seine Haare sind ergraut, er trägt schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Lackschuhe, wie an den meisten anderen Prozesstagen auch. Peter Werner S. ist heute 52 Jahre alt. Früher war er ein Skinhead. Mittlerweile, beteuert er, führe er ein bürgerliches Leben, mit Frau, Tochter, einem Job als stellvertretender Teamleiter in einer Autowaschstraße und, wie er sagt, “vielen ausländischen Freunden”. Dieser Mann ist angeklagt wegen Mordes. Aufgrund der Erinnerung der Frau, die er vor eineinhalb Jahrzehnten auf einem Grillfest kennenlernte; für eine Tat, die drei Jahrzehnte zurückliegt. Im Prozess gegen Peter Werner S. ist sie wieder da: die Zeit nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung, in der kahl rasierte, mit Baseballschlägern bewaffnete junge Männer vielerorts die Straßen beherrschten. Eine Zeit, in der es wie niemals zuvor und niemals danach in der Bundesrepublik zu Gewalt gegen Asylbewerber, Deutsche ausländischer Herkunft, Obdachlose und linke Jugendliche kam. Die meisten Menschen dürften dazu Bilder aus Ostdeutschland vor Augen haben. Der rechtsradikale Mob vor Plattenbauten im sächsischen Hoyerswerda, in denen Flüchtlinge und Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam untergebracht sind. Das brennende Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen, die darin eingeschlossenen Vietnamesen in Todesangst. Skins und Hooligans, die mitten am Tag Afrikaner durch Magdeburg jagen. Diese Szenen haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt. Was weniger bekannt ist: Auch in beschaulichen westdeutschen Orten wie dem saarländischen Saarlouis mit seinen 38.000 Einwohnern trieben sich damals junge Menschen in ihrem rechtsextremen Hass gegenseitig zu brutaler Gewalt an. Heute sind die Skins aus den allermeisten Städten verschwunden. Die sogenannten Baseballschläger-Jahre scheinen längst vergangen zu sein, wie eine versunkene Epoche. Aber sind sie das wirklich?  28. November 2022, der zweite Prozesstag: Peter Werner S. liest einen Text vor, in dem es um sein Leben geht. Zu seinem Vater habe er keinen Kontakt gehabt, sein Stiefvater habe ihn verprügelt. 1988, mit 17, habe er eine Bäckerlehre begonnen. Mit dem Gesellen habe er den Transporter der Bäckerei gestohlen, sie seien durch Europa getourt. Danach Mietbetrügereien in Frankfurt und München. Festnahme in einem Hotel in Saarlouis.  In der Jugendstrafanstalt lernte Peter Werner S. einen anderen jungen Mann kennen, klein und schmächtig, mit dem er sich den ersten Vornamen teilt: Peter St. wird von Zeugen als charismatisch beschrieben, ein guter Redner.  Im Frühjahr 1991 war Peter Werner S. wieder frei. Vor Gericht trägt er vor, er habe Peter St. zufällig auf der Brücke über die Saar wiedergetroffen. “Komm doch mit, lass uns noch was trinken gehen”, habe Peter St. zu ihm gesagt. So geriet Peter Werner S. in die Skinhead-Szene von Saarlouis. Peter St. war ihr Anführer. […] Gesamter Text bei ZEIT Online

Das Blut an den Bronzen von Benin

Erschienen in Das Magazin, 18.08.2023/ Foto: Manny Jefferson Europäische Museen haben mit der Rückgabe von Kunstwerken begonnen, die zur Kolonialzeit aus dem heutigen Nigeria geraubt wurden. Doch nun behauptet ein Lokalfürst, die kostbaren Objekte seien sein Privateigentum. Eine Recherche von Zürich bis Lagos Der Prinz von Benin war geladen, um Raubkunst zu identifizieren, und so reiste er diesen Januar mit Bus und Bahn durch die Schweiz, nach Basel, Zürich und St.Gallen. Nie zuvor hatte der Kunsthistoriker das Land besucht, ein Visum ist unter normalen Umständen fast unerreichbar. Die Schweiz machte Eindruck auf den Prinzen: Es gefiel ihm, durch den Schnee zu stap- fen, vom Zugfenster aus die Berge zu sehen und dass es zu jeder Mahlzeit einen Korb mit Brot gab. In Zürich in der Badenerstrasse entdeckte er ein Restaurant, benannt nach seiner Urahnin, Königsmutter Idia, westafrikanische Küche. Er ass Erdnusssuppe mit Fisch, und nachdem er die Inhaber darüber aufgeklärt hatte, dass er ein Prinz von Benin ist, ein Nachfahre der Idia also, da erzählte er bei nigerianischem Bier bis spätnachts aus seinem Leben. Der Höhepunkt für den Prinzen aber war der Besuch im Zürcher Museum Rietberg. Als er erstmals die Kunst seiner Vorfahren in den Händen hielt. Es war jene Kunst, welche die Kolonialisten vor 126 Jahren aus dem Palast seines Urgrossvaters geraubt hatten, dem Oba Ovonramwen, König von Benin: aus Messing gegossene Köpfe seiner Ahnen, Skulpturen wilder Tiere oder Relieftafeln, auf denen historische Ereignisse abgebildet sind. In diesem Moment, sagt der Prinz, habe er sich alt gefühlt. Sehr alt. Dann schweigt er. Der Prinz heisst Patrick Oronsaye, er ist Mitte sechzig und sitzt mir gegenüber am Rande von Benin City, Nigeria, im Büro des Waisenhauses, das seine Mutter einst gegründet hat. Auf dem Laptop klickt er durch die Fotos seiner Schweizreise, Betriebssystem Windows 7. Den wackligen Schreibtisch hat Western Union gespendet, am Fensterrahmen blättert der Putz, aus dem Innenhof dringt Kinderlärm. Der Prinz erzählt, einer seiner Jungs aus dem Waisenhaus habe ein- mal gesagt, mit den Benin-Bronzen, die Deutschland und womöglich auch die Schweiz nun zurückgeben werden, kehre die Geschichte zurück. Das stimme. Es sei, als wären es seine Vorfahren selbst, die nach Hause kommen. Nach Hause – für den Prinzen heisst das: in die Hände seines Neffen, des Oba Ewuare II. Der aus seiner Sicht einzig rechtmässige Besitzer. […] Gesamter Text

Und wenn ich einfach wach bleibe?

Benedikt Herber hat Schlafprobleme und beschließt: Er steht auf und nutzt die Zeit mitten in der Nacht für sich. Ein Selbstversuch Erschienen in die ZEIT, 24. November 2022 / Illustration: Martin Nicolausson Gnadenlos hämmert der Husten meiner Freundin auf mein Trommelfell. Wie lange geht das schon so? 15 Minuten, zwei Stunden? Ich weiß es nicht, weiß nur, dass ich nicht mehr einschlafen werde. Ich steige aus dem Bett und tappe barfuß in Richtung Küche, reiße das Fenster auf, ziehe mein Schlafshirt über den Kopf, und als die kalte, frische, feuchte Luft hereintritt, meine Haut sich strafft und die Haare sich aufrichten, denke ich: Benjamin Franklin, Miterfinder der amerikanischen Demokratie und des Blitzableiters – sein Genie muss etwas mit diesem Gefühl zu tun haben. Seit ich denken kann, habe ich Schlafprobleme. Das Einschlafen fällt mir nie schwer, aber von etwa vier Uhr morgens an liege ich hellwach im Bett. In einem Netz von Gedanken hetze ich umher, verheddere mich, stolpere. Wieder und wieder versuche ich, mich daraus zu lösen, aber es gelingt mir nicht. Stunden vergehen, bis ich erschöpft in den Schlaf falle oder der Wecker klingelt. Es war mir immer klar, dass Millionen andere das gleiche Problem haben, kein Grund, eine große Sache daraus zu machen. Bis mir ein Roman die Augen öffnete. Das Buch heißt Harlem Shuffle, geschrieben vom Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead. Im Harlem der Sechzigerjahre, einer dreckigen Welt voller Zuhälter und Kleinganoven, versucht ein gewisser Ray Carney sauber zu bleiben. Deshalb studiert er. Ein Professor der Betriebswirtschaft erklärt ihm, wann die beste Zeit für die Buchführung sei: Sein Vater habe die “mitternächtliche Mußestunde bevorzugt”. Vor der Erfindung der Glühbirne sei es nämlich üblich gewesen, in zwei Etappen zu schlafen. Die erste begann kurz nach der Abenddämmerung, denn: “Wenn es kein Licht gab, (…) welchen Sinn hatte es dann, aufzubleiben?” Nach vier Stunden wurde man von einem inneren Wecker aus dem Schlaf geholt – für etwa zwei Stunden, dann legte man sich wieder hin und schlief bis in den Morgen durch. Kann das, was ich da las, wirklich wahr sein? Ich begann zu recherchieren. Im Internet stieß ich auf einen Historiker namens Roger Ekirch und auf einen Aufsatz, den er 2001 veröffentlicht hatte: Sleep we have lost. Darin berichtet Ekirch, er habe Hunderte Tagebücher, Romane und Zeitungsartikel aus der vorindustriellen Zeit ausgewertet und dabei immer wieder Hinweise auf den zweiphasigen Schlaf gefunden.  Die Stunden dazwischen nannten die Briten the watch, die Franzosen dorveille, ein Kofferwort, das so viel wie “Wachschlaf” bedeutet. Dieser dorveille galt als Zeitfenster der Muße, der Fantasie. In Cervantes’ Don Quijote beschimpft der Held einmal seinen treuen Knappen Sancho Panza, weil der in einem Stück durchschlafe – und nicht, wie allgemein üblich, nach dem “ersten Schlaf” aufwache, um mit seinem Don die großen Fragen der Menschheit zu diskutieren. Benjamin Franklin soll mitten in der Nacht “kalte Luftbäder” genommen haben – eine schöne Art, auszudrücken, dass er nackt am offenen Fenster saß –, um dann mit frischem Kopf an Erfindungen zu tüfteln. Andere hatten zwischen Schlaf und Schlaf einfach Sex. In meinem Kopf wuchs ein Gedanke: Kann es sein, dass in Wirklichkeit nicht mein Schlaf gestört ist, sondern die Gesellschaft, in der ich lebe? Die Elektrizität, Botin der Moderne, die dem Menschen Licht brachte, den Thermomix und Internetpornos, hatte sie die Tür zugeschmettert zur mystischen Welt des dorveille? […] Der ganze Text bei ZEIT Online

Oberlin-Morde: Eine funktionsfähige Fassade

Erschienen in DIE ZEIT, 01.12.2021/ Foto: Benedikt Herber Ines R. galt als eine ausgezeichnete Pflegerin, freundlich, mütterlich und liebevoll. Doch dann lief sie Amok und tötete vier Menschen. Am Abend des 28. April 2021 erreicht ein Notruf die Polizeileitstelle Potsdam. Mann am Telefon: „Ja, wie soll i dette jetz am besten erklären?“ Polizist: „Einfach frei von der Leber weg.“ Mann: „Meine Frau kam voll durch den Wind von der Arbeit. Völlig psychotisch. Dann hat sie mir erklärt, dass sie jemandem die Kehle durchgeschnitten hat.“ Polizist: „Was?“  Mann: „Hab bei denen auf der Arbeit angerufen, die haben das selbst gar ned gemerkt. Ich hab sie gebeten, aufs Zimmer zu schauen. Es scheint zu stimmen.“ Polizist: „Wo arbeitet Ihre Frau denn?“ Mann: „Im Oberlinhaus … Ich zittere am ganzen Körper.“  Polizist: „Welche Station?“ Mann: „Thusnelda-von-Saldern-Haus.“ Polizist: „Achten Sie bitte auf Ihre Frau, dass sie sich nicht wäscht und ihre Sachen nicht wechselt. Ich schicke Ihnen dann die Kollegen hin. Alles klar, Herr R.?“ Sieben Monate nach diesem Anruf, Ende November, betritt der Mann, der Thimo R. heißt und 57 Jahre alt ist, den Gerichtssaal. Er winkt kurz in Richtung Anklagebank, doch seine Frau verzieht keine Miene. Starr blickt Ines R. geradeaus, ihre Augen bleiben so leer und ausdruckslos, wie sie es bisher über alle Prozesstage hinweg waren. Diese 52-jährige Frau, über die alle Zeugen sagen, sie sei vielleicht ein wenig wortkarg gewesen, aber immer liebevoll, zuvorkommend und aufopfernd; die vielleicht etwas empfindlich auf Geräusche reagierte, wenn das Radio mal wieder zu laut aufgedreht war – diese Frau soll vier ihrer wehrlosen Schutzbefohlenen, Menschen mit schweren Behinderungen, ermordet haben. Ein fünfter schwebte in Lebensgefahr. Ihre Leutchen, wie sie sie nannte.  Der Prozess, der dieser Tage in Potsdam verhandelt wird, dreht sich nicht nur um eine Frau, die Amok gelaufen ist, sondern auch um die miserablen Bedingungen in der Pflege. Er offenbart, dass auch eine kirchliche Einrichtung wie das Oberlinhaus, „das diakonische Kompetenzzentrum für Teilhabe, Bildung und Arbeit“, bei Kontrollen stets mit Bestnoten ausgezeichnet, schwere strukturelle Probleme hat. […] Gesamter Text bei ZEIT Online

Seine Gedanken sind Gedichte

Elias leidet am Locked-in-Syndrom. Er kann sich nicht bewegen und nicht sprechen. Aber er kann schreiben. Für ihn löst sich in diesen Momenten die Not.  Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 04.4.2021 Die Reise beginnt immer mit einer Wahrnehmung. So wie jetzt, da er im Familiengarten außerhalb des Trubels der Basler Innenstadt sitzt. Der Tisch ist gedeckt, sporadisch zumindest, drei Tassen, eine Dose Instant-Kaffee und Creme-Schnitten, noch in Plastik verpackt. Der Himmel zieht zu, es könnte Regen geben. Ein kurzes Luftschnappen, ein kurzes Röcheln, Elias’ Atmung wird ruhiger. Sein Blick tastet sich den Garten entlang. Er sieht den Bauwagen, Lack bröckelt von der Holztür. Er spürt den Wind, er streicht ihm durchs dichte schwarze Haar. Er riecht den Duft der Nelken, die blühen drüben zwischen hohem Gras. Welche Wahrnehmung es diesmal sein wird, ist egal, sie ist nur ein Hilfsmittel, die Eintrittskarte in eine Welt, in der alles möglich ist. Wenn Elias sein Motiv gefunden hat, schreibt er Gedichte wie dieses: Die Wolken sagenkomm mit ich denke,irgendwann bin ich bereit den Wolkenweg aufzunehmenwerde mich fühlen wie ein König der Winde werde entlastet seinvon der Konfrontation mit meinen zwiespältigen Gefühlen ich bin dann erlöst und freiirgendwann bin ich bereit Wolkenweg – September 2018 Elias Dahler ist 25 Jahre alt und liebt Wörter. Selbst gesprochen hat er noch nie eines. Zumindest dann, wenn man unter „Sprechen“ versteht, Zunge und Lippen so zu bewegen, dass dabei Geräusche entstehen. Seit Elias auf der Welt ist, ist ihm das nicht möglich. Auch seine Arme und Beine kann Elias nicht bewegen. Elias leidet an einem Locked-in-Syndrom: Sein Körper ist fast vollständig gelähmt – nur seinen Kopf und seine Augen kann er bewegen. Geistig aber ist Elias gesund. Elias war ein Gefangener seines Körpers. Jetzt schreibt er Gedichte. Am 1. November 1995 kam Elias in einem Krankenhaus in Basel zur Welt. Während der Geburt hörte das Herz auf zu schlagen, für einige Minuten wurde sein Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt. Die Ärzte erklärten Dominik Dahler und Claudia Mani, Elias’ Eltern, dass ihr Sohn für den Rest seines Lebens an einer Zerebralparese leiden werde. Durch den Sauerstoffmangel seien Teile des Gehirns irreversibel geschädigt. Er werde sich niemals bewegen oder sprechen können. Ob er überhaupt Situationen begreife, sei ungewiss. Nur ein paar Gehminuten vom Rhein entfernt, in einem von Kletterrosen und Efeu bewachsenen Innenhof im Zentrum Basels, steht das Haus der Familie Dahler. Auf dem großen Echtholztisch, auf dem die Dahlers normalerweise zu Abend essen, liegen Kinderfotos und Zettel mit Zeichnungen und Gedichten verteilt. Bereits als Elias noch ein Baby war, seien sie davon überzeugt gewesen, dass er Situationen begreife, erzählt Dominik, der Vater, in melodischem Schweizerdeutsch. Er und seine Frau Claudia sind ein Lehrerehepaar, beide Mitte fünfzig. Es waren seine braunen Augen, die so klar wirkten, so aufmerksam, manchmal amüsiert. Immer hätten diese Augen Kontakt zu ihnen gesucht, sagt Dominik. Sie hätten zu ihnen gesprochen. Noch heute müsse Elias nur einen Raum mit vielen Menschen betreten – und alle Blicke seien auf diese Augen gerichtet. „Elias’ behandelnder Neurologe sagte einmal, das Gehirn eines Kleinkindes sei wie eine Knospe“, erzählt Claudia, die Mutter. „Trotz der Hirnverletzung könne niemand voraussagen, wie es sich entfalten werde. Dieses hoffnungsvolle Bild hat uns sehr geholfen.“ […] Gesamter Text bei Blendle

Als ob es kein Morgen gäbe

Feiern ja, aber in kontrolliertem Rahmen: Berliner Clubs erproben neue Konzepte, um auch in der kalten Jahreszeit Besucher empfangen zu können. Das reicht von Veranstaltungen in Zelten bis hin zu Kunst-Performances statt Party. Der Berliner Senat unterstützt diese Pläne Erschienen im Oktober 2020 im Deutschlandfunk Mikrokosmos/ Foto: Marc Hunter

Es lebe die Metaebene!

Vor einer Woche hat sich unser Autor Alexander Rupflin gegen die Metaebene in Reportagen ausgesprochen. Benedikt Herber widerspricht: Ohne die Metaebene bleibt jede Geschichte trivial. Gegen den Kitsch hilft ein anderes Mittel. Ist die Reportage tot? Oder doch nur die Metaebene, wie Alexander in seinem Essay „Der Schwachsinn der Metaebene“ verkündet? Ich würde sagen: Weder noch. Dass die Reportage vorschnell als eitle, durchweg kitschige und eigentlich unjournalistische Fingerübung von Schönwetterschreibern abgetan wurde, war sicherlich ein Fehlschluss. Es existieren so viele großartige Reportagen, die komplett frei von Kitsch sind. Und ja, ich würde behaupten, dass diese Texte allesamt eine ausgeprägte Metaebene besitzen. Warum? Weil die Metaebene ein notwendiges Qualitätsmerkmal ist – keine gute Reportage kommt ohne sie aus.  Geschichtenerzähler sind wie Wissenschaftler – Sie machen Zusammenhänge sichtbar Um zu verstehen, warum die Metaebene so wichtig ist, hilft etwas Storytelling-Theorie. Eine Geschichte, das ist, wie Reportagen-Lehrmeister Jon Franklin („Writing for Story“) betont, vor allem eine Entwicklung. Dynamik ist essenziell: Der Protagonist befindet sich in einer konflikthaften Situation, die er zu meistern versucht. Im Idealfall scheitert er zunächst, findet in der Niederlage etwas über sich selbst heraus und ist schließlich in der Lage, den Konflikt zu lösen (Auch wenn die Realität natürlich nicht immer dem Ideal gehorcht, so lässt sich dieses Muster in Abwandlungen doch sehr häufig finden – man muss nur wissen, dass man danach suchen muss). Insofern machen gute Geschichtenerzähler etwas sehr Ähnliches wie Wissenschaftler an einer Universität – zumindest in qualitativen Forschungszweigen: Sie machen kausale Zusammenhänge sichtbar. Eine Reportage beginnt häufig mit einer abhängigen Variablen: In einem Zeitungsbericht lesen wir von einem Boxer, der im Ring gestorben ist (man denke an die großartige Reportage „Der Preis eines Traumes“ von Klaus Brinkbäumer) oder von einem ehemaligen Neonazi-Aussteiger, der einen Integrationspreis gewinnt. Abhängige Variablen sind Ereignisse, die durch vorangegangene Ereignisse ausgelöst wurden. Wenn wir als Schreiber unsere abhängige Variable definieren, blicken wir also automatisch in die Vergangenheit: Wir begeben uns auf die Suche nach der Ursache, nach der unabhängigen Variablen. Diese kann dann wieder eine andere unabhängige Variable vorausgehen, bis wir es mit einer Kette von Variablen zu tun haben, die sich gegenseitig beeinflussen. Wenn wir dieser Variablenkettung bis zum Anfang folgen, begreifen wir irgendwann den Grundkonflikt, der sie überhaupt ausgelöst hat.  Meine Definition von Metaebene: Die Variablen finden, die universell wirken Das alleine reicht aber noch nicht für eine wirklich gelungene Reportage. Solange sie reine Erzählung ist – die Wiedergabe einer Kette von Variablen von unmittelbarer Bedeutung also – bleibt sie isoliert. Ihr Fokus ist verkürzt, weil sie die Strukturen ausblendet, in denen sich der Protagonist bewegt. Diejenigen, auf die mein Protagonist gar keinen Zugriff hat, die a priori gesetzt sind, die die Kausalkette permanent beeinflussen, ohne dass der Handelnde selbst einen Einfluss auf sie hat: Die menschliche Psyche als neuronaler Prozess, die Weltwirtschaft, rassistische Stereotypen in einer Gesellschaft – jedes übergeordnete System also. Die daraus abgeleiteten Variablen sind es, die den Protagonisten meiner Geschichte mit mir als Leser in eine Verbindung setzen, weil uns diese übergeordneten Mechanismen alle betreffen. Den Variablenraum zu erweitern, hin zu den unabhängigen Variablen, die universell wirken, das ist meine Definition der Metaebene.  Ohne Metaebene keine Erkenntnis Bei jeder Geschichte stellt sich die Frage: Betrifft mich das, was dort steht? Warum sollte ich einen Text über einen Menschen in einem mir unbekannten Land lesen, der sich mit einem Konflikt rumschlägt, der mir vollkommen fremd ist? Wenn es keinen Anker der persönlichen Betroffenheit gibt, werde ich wahrscheinlich weiterblättern. Das Schicksal der Bauernfamilie in der Zentralafrikanischen Republik kann noch so erschütternd sein, sie ist journalistisch erst einmal vollkommen uninteressant – Dramen gibt es immer und überall. Interessant wird die Bauernfamilie für mich, wenn ich begreife, dass ihr Elend die direkte oder indirekte Folge von Makrostrukturen ist – von unfairen Marktdynamiken beispielsweise. Das Schicksal der Familie wird dadurch verallgemeinerbar, es steht für viele andere, denen es genauso geht. Abhängig davon, was der eigentliche Konflikt der Story ist (Das physische Leid des Hungers? Oder die fehlende Wertschätzung der Dorfbewohner?), hat der Protagonist unterschiedliche Möglichkeiten, den Konflikt mit seinen beschränkten Mitteln lösen (vielleicht gelingt es dem Bauern, die Dorfbewohner dafür zu sensibilisieren, wie wichtig die lokale Landwirtschaft ist. Er bekommt Wertschätzung und/ oder muss nicht mehr Hunger leiden). Gegenüber einiger unabhängiger Variablen, die permanent auf sein Handeln einwirken, bleibt er aber machtlos (der Druck auf den Marktpreis durch billige Fleischexporte aus Europa beispielsweise). Wenn die Metaebene fehlt, bleibt die Geschichte unvollständig, weil sie den Leser ohne Learning zurücklässt.  Das Mittel gegen den leidigen Kitsch Recht hat Alexander, wenn er Journalisten vorwirft, ihre Geschichten durch vorgefertigte Hypothesen zu sehr in Schemata pressen zu wollen, was letztlich dazu führe, dass ständig dasselbe lauwarme Klischee reproduziert werde. Er schreibt, dass die Reportage die einzige journalistische Form sei, die den Leser als „das empathische Wesen anspricht.“ Soweit bin ich bei ihm. Auch, wenn er schreibt, dass die Reportage eine Art Testlauf für das eigene Leben sei, indem der Leser etwas über die „menschliche Natur innerhalb seines politischen, gesellschaftlichen, ökologischen, kulturellen Umfelds“ lernt. Ja, eine Reportage, deren Universalität möglichst absolut ist, die mich in meinem Menschsein ergreift, ist das Ideal. Aber gerade diese Reportage lebt von der Metaebene, also dem Herausarbeiten jener universellen Mechanismen, die den Leser mit dem Gelesenen verbinden. Der Leser muss begreifen, was diese „politischen, gesellschaftlichen, ökologischen und kulturellen“ Umfelder ausmacht, welche Kausalketten also von außen auf den Protagonisten wirken. Natürlich droht beim Wechsel zwischen Handlungs- und Metaebene die Holzschnittartigkeit – und ja, lässt sich der Autor zu sehr durch seine zuvor getroffenen Annahmen leiten, statt die Metaebene immer wieder mit dem Erlebten abzugleichen, dann verliert das Geschriebene seine Originalität.  Das ist allerdings eine Binsenweisheit: Wer keine Neugier zeigt, sondern Weltbilder belegen will, wird keine Momente der Wahrhaftigkeit erzeugen, sondern bloßen Kitsch. Dieses Haltungsproblem dürfen wir aber nicht der Metaebene ankreiden. Wahre Meister der Reportage verstehen es, die Ebenen möglichst geschickt und subtil miteinander zu verflechten. Komplett auf die Metaebene zu verzichten würde dagegen heißen, das Ideal der Universalität aufzugeben. Die Geschichte droht, trivial zu werden – und damit bedeutungslos. Nicht die Metaebene ist schuld am Kitsch. Sondern die fehlende Ergebnisoffenheit mancher

Wo die Geschichten stranden

Die marokkanische Hafenstadt Tanger galt einst als Sehnsuchtsort amerikanischer Dandys. Heute kämpfen Einheimische für die Eigenständigkeit ihrer Kunst – und gegen den Widerstand des konservativen Islam Von Benedikt Herber, CICERO, 01.04.2020 Es gibt diesen Tanger-Mythos: Du bist eigentlich nur auf der Durchreise, aber irgendetwas hält dich fest – und ehe du dich versiehst, kaufst du dir ein Haus, beobachtest für den Rest deines Lebens mit einem frisch gepressten Orangensaft in der Hand, wie sich die Wellen vor der Kasbah brechen. Tanger ist wie ein Magnet, wer ihm zu nahe kommt, kann sich ihm nicht entziehen. Ein schwarzes Loch, das dich verschluckt. Wenn Tanger also die Stadt der Gelegenheitsabenteurer ist, dann gehört Mohammed Mrabet eigentlich gar nicht hier her. Denn Mrabet, der Maler und Geschichtenerzähler, wollte nie woanders sein.  An der Straße von Gibraltar wirkt es fast so, als würden sich Europa und Afrika die Finger reichen. Rund zehn Seemeilen sind es von Spanien übers Mittelmeer bis nach Tanger, der Millionenstadt im Norden Marokkos. Mit der Fähre vom andalusischen Tarifa aus braucht man für die Strecke etwas mehr als eine Stunde. Schon wenn sich das Schiff der afrikanischen Küste nähert, zeigt sich Tanger mit seinem gesamten Charme: Die weißen Altstadthäuschen reihen sich manierlich wie Bausteine aufeinander, vom Hafen bis hoch zur historischen Festung, der Kasbah. Vom ersten Moment an ist der Reisende erfüllt durch diese Tanger-spezifische Leichtigkeit. Am Stadtstrand traben Kamele und Pferde durch den Sand, der Geruch von Kümmel, Safran und frischem Obst liegt in der Luft, und auf den Dachterrassen tanzt die Wäsche im warmen Wind des Mittelmeers.  Es fällt nicht schwer nachzuvollziehen, welche Faszination Tanger auf die vielen großen Schriftsteller hatte, die sich im 20.Jahrhundert in den hektischen Gassen der Medina, der traditionellen muslimischen Altstadt, einnisteten: William S. Burroughs, Paul und Jane Bowles, Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Truman Capote, Tennessee Williams. Allesamt Outsider des amerikanischen Literaturbetriebs, Querköpfe, Dandys.  Burroughs, der in Tanger viele Jahre verbrachte, sprach in seinem drogenhalluzinierenden „Naked Lunch“ von der „Interzone“, einem Niemandsland zwischen den Welten. Er suchte hier, was er weder in Europa noch Amerika finden konnte. Denn das Tanger seiner Zeit verband die Schönheit des Orientalischen mit einer historisch einzigartigen Freizügigkeit, mit Drogen und (häufig homosexuellem) Sex. Burroughs und die anderen fanden all das an dem Ort, der so leichtfüßig alle Erwartungen brach, wie Okzident und Orient doch bitte zu sein haben.  Tanger ist ein Kind des Spätkolonialismus. Als strategisches Tor nach Nordafrika war die Stadt hoch attraktiv: für die Spanier und die Franzosen, die den Rest Marokkos unter sich aufteilten. Auch für Deutschland, das 1905 eine diplomatische Krise auslöste, als Wilhelm II. die Stadt besuchte. 1923 machten acht Mächte die Stadt und ihr Umland zur internationalen Zone, in der de facto Anarchie herrschte. Sie existierte bis 1956. Tanger entzog sich der Regierung Marokkos, wurde zum Rückzugsort für die Anarchisten des Spanischen Bürgerkriegs, zum Paradies für Spione, für Schmuggler. Und für jeden, der sich ein Leben außerhalb bürgerlicher Regelsysteme wünschte. Es florierten Schwulenbordelle, Drogen gab es an jeder Straßenecke zu kaufen.  Heute stellen sich andere Fragen: Kann ein Tanger der radikalen Freiheit dem vorpreschenden muslimischen Konservatismus trotzen? Und wie frei kann sich dieser marokkanische Kulturbetrieb von seinen westlichen Vorbildern machen? 1931 besuchte ein junger Amerikaner namens Paul Bowles das erste Mal Tanger. Fast zwei Jahrzehnte später sollte er mit seiner Ehefrau Jane wiederkommen und bleiben. Bowles schrieb in Tanger „Sheltering Sky“, „Himmel über der Wüste“. Ein existenzialistischer Roman über drei Amerikaner unterwegs in der Sahara, 1949 erstmals erschienen. „Wir sind keine Touristen, wir sind Reisende. Ein Tourist ist jemand, der vom Moment der Ankunft über das Nachhausekommen nachdenkt“, heißt es am Anfang des Buches. Bowles fand in Tanger sein neues Zuhause.  „Sheltering Sky“ trug dazu bei, dass Tanger zum Sehnsuchtsort einer kulturellen Avantgarde wurde. Projektionen eines wilden, romantischen Orients verbanden sich hier mit den Freiräumen für einen anarchistischen Hedonismus. Dabei war diese Avantgarde eine westliche, sie blieb meist unter sich. Das Interesse des dauerberauschten Burroughs für die Menschen vor Ort galt vor allem minderjährigen Lustknaben. Die gelebte Freiheit im Orient hatte einen kolonialistischen Beigeschmack.   „Sheltering Sky“ hat das Leben der Schweizer Autorin Amsél Muheim verändert. Die Wohnung der dunkelhaarigen Dame mit markantem Züricher Akzent und dem Hang zu grellen Kleidungselementen liegt im vierten Stock eines herrlichen Altbaus, in einer Nebenstraße beim Place de France. Draußen riecht es nach Bratfett und Autoabgasen. Motoren, Straßenhändler und Kleinkinder kreischen um die Wette. Drinnen: einladendes, weitläufiges Wohnzimmer, verwinkelte Gänge, an der Wand hängt Kunst von Mohammed Drissi, einer Art marokkanischem Ernst Ludwig Kirchner. Der Balkon gibt den Blick auf den glitzernden Teppich des Mittelmeers frei, wie auf einem impressionistischen Gemälde verläuft das Blau des Meeres an seinen Rändern mit dem grauen Küstenstreifen Spaniens.  Die erste Berührung mit „Sheltering Sky“ hatte Amsél dank Bernardo Bertolucci. Der hatte Bowles’ Roman 1990 verfilmt, Debra Winger und John Malkovich spielten das Ehepaar Kit und Port Moresby. Eine Offenbarung: „Ich war überwältigt“, sagt sie. „Es ging um Freiheit – um die Frage, wie frei ein Mensch sein kann. Frei von alten Mustern, von seinem kulturellen Hintergrund.“ Und dann diese Bilder: die Weiten der Wüste, die engen Gassen der Medina – „atemberaubend“. Amsél, die junge Studentin mit drei kleinen Kindern, hatte einen Entschluss gefasst: Sie müsse nach Tanger. Als sie das erste Mal in der nordafrikanischen Stadt ankam, habe sie sich wie Paul Bowles in seiner Autobiografie „Without Stopping“ gefühlt: Sie habe geahnt, dass hier Probleme gelöst würden, von deren Existenz sie bisher noch nicht einmal wusste. Was Tanger ausmache? „Schwer zu sagen“, sagt Amsél. „Es ist, wie wenn du dich verliebst. Warum ausgerechnet in diese Person? Vielleicht ist es das Orientalische, vielleicht der Mix der Kulturen. Und die geografische Lage als Brücke zwischen Okzident und Orient.“  Wie sieht es der heute 84-jährige Mohammed Mrabet? Der Maler erzählt langsam und in seinem Tanjawi-Dialekt von seiner Kindheit, es klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht: Jeden Tag hätten er und seine 24 Geschwister frischen Fisch aus dem Mittelmeer gegessen. „Wir aßen wie die Löwen“, sagt Mrabet. Er kenne keinen besseren Ort als das Tanger